W. Weilenmann
Dr. med. dent.
Walter Weilenmann
eidg. dipl. Zahnarzt
dipl. Natw. ETH

Mitglied SSO, SSGS
und SSO-Zürich.

Wunderbare Wundheilung

Die Wundheilung ist so wunderbar wie das Heranwachsen eines Kindes. Die Zellen der Lebewesen wachsen und vermehren sich nicht nur, sie reparieren auch eine Wunde und füllen einen Defekt wieder auf. Wie machen sie das ohne Gehirn und ohne Verstand?

In einer Zelle arbeiten tausende von verschiedenen Molekülen miteinander. In einfachen Zellen (wie Bakterien) sind es weniger, aber im Laufe der Evolution sind es immer mehr geworden. Ohne etwas davon zu wissen ermöglichen diese Moleküle das Leben und pflanzen es fort. Ohne sie würde das Leben in kurzer Zeit wieder aufhören. Dies bei den Bakterien, Pflanzen und auch Tieren. Die Moleküle können in Gruppen eingeteilt werden. Aber Achtung: sie sind alle voneinander abhängig und gleich wichtig.

  • Es gibt Hormone, die das Lebewesen zu lebenserhaltenden Reaktionen bewegen, mit denen sie sich ernähren, fortpflanzen und Feinde abwehren.
  • Und jede Zelle hat Reparaturenzyme, welche Schäden an der Erbsubstanz reparieren.
  • Zudem ist eine Immunabwehr vorhanden, welche mit Antikörpern und anderen Substanzen fremde Bakterien und Fressfeinde abhalten und abtöten.
  • Und es gibt Kontrollmoleküle, welche die Zellteilung zur Wundheilung aktivieren und wieder stoppen, wenn die Wunde geheilt ist.
  • Dazu kommen noch viele andere Gruppen von Molekülen...
Das folgende Beispiel zeigt, wie eine einfache Extraktionswunde auf wunderbare Weise wieder zuheilt.
Bin ich "nur" eine chemische Fabrik?
"nur" ist ungerecht, denn dieser Fabrik verdanke ich mein Leben! Sie ist das Resultat von 4 Millionen Jahren Evolution. Sie hat starke lebenserhaltende Triebe erfunden. Diese beginnen beim Neugeborenen, der die Brust sucht, und dauern bis zum 83-Jährigen, der als Patient im Spital seiner Pflegerin zwischen die Beine greifen will. Die "Selbstkontrolle" versagt vielfach und auch prinzipiell, weil ich den "Balken im eigenen Auge" nicht sehen kann (das tun auch ganze Armeen und ihre Generäle nicht). Die "Fabrik" schenkt mir aber immer wieder eine wunderbare Freude, wenn ich die Natur beobachte und helfe, ihre Wunden zu pflegen und zu heilen.

Anamnese:
Die 64-jährige Patientin (22.10.2022 / 6169) kann seit einem Jahr links nicht mehr kauen, weil der Sechser wackelt und bei jedem Druck sofort schmerzt. Immer wieder kam ein eitriger Geschmack vom Zahn, wenn sie mit der Zunge gegen ihn drückte. Und seit einer Woche ist das Zahnfleisch auf der Wangenseite erbsengross geschwollen.


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Vor und nach der Extraktion

links: Das Röntgenbild zeigt, dass sich der Knochen von der Wurzel abgelöst hat. Diese Art von "Knochenschwund" entsteht immer entlang von einer gespaltenen Wurzel. Ist vielleicht die Wurzelfüllung schuld?

Mitte: Der extrahierte Zahn hat viel Zahnstein zwischen den Wurzeln. Die linke, gaumenseitige Wurzel ist bis über die Wurzelspitze mit Zahnstein bedeckt. Der Nerv in dieser Wurzel ist deshalb abgestorben. Es ist aber wider Erwarten keine Wurzelfraktur zu sehen.

rechts: Auch die zwei anderen Wurzeln sind nicht gespalten. Es bleibt nur der Zahnstein zwischen den Wurzeln als Ursache der Zahnlockerung.


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Tag 1 und 2

links (drei Stunden nach der Extraktion):
Das Blut ist geronnen und wird vom Speichel nur noch minimal verflüssigt. Die Wunde schmerzt immer noch so wie vorher bei jeder Berührung. Der Eiter und die Schwellung sind verschwunden.

rechts (24 Stunden später):
Die Wunde auf der Gaumenseite (ganz unten im Bild) ist deutlich kleiner. Sie wird von der Zunge zusammengepresst. Dabei nähern sich die Wundränder und verkleben miteinander, und bald können bewegliche weisse Blutkörperchen durch die verklebten Wundränder hindurch kriechen, so wie sie auch durch das geronnene Blut kriechen können.
Die beiden wangenseitigen Wunden sind nicht mehr voll. Das Blut ist dort vom Speichel etwas ausgewaschen worden. Die Wunde schmerzt aber nicht mehr, wenn die Zunge darauf drückt. Endlich! − so rasch nach einem Tag, obwohl die Entzündung schon über ein Jahr andauert!


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Woher kommt die dunkle Rötung?

Auf dem Bild oben links fällt der dunkelrote Wundrand auf. Woher kommer er? Das Zahnfleisch dort wurde bei der Extraktion nicht verletzt. Es wirkt am zweiten Tag frischer, rötlicher und besser durchblutet (Bild oben rechts). Das ist ein Zeichen für sauerstoffreiches Blut.

links: Zwischen den Wurzeln ist Zahnstein zu sehen. Er berührte das dunkelrote Zahnfleisch.

rechts: Die Vergrösserung zeigt die spitzigen Zacken des Zahnsteins. Er ist von verschiedensten Bakterien überwachsen. Aus Platznot bekämpfen sie sich mit Exotoxinen, welche offenbar auch das anliegende Zahnfleisch und den darunterliegenden Knochen angreifen. Dieser hat sich unter Schmerzen im Laufe eines Jahres vom Zahnstein zurückgezogen (Parodontitis).


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Tag 4

Die Wunde ist fast ganz geschlossen. Die Hautzellen vom Wundrand haben sich vermehrt und sind über das koagulierte Blut gewachsen. In den nächsten drei Monaten werden sich auch die Zellen vom Kieferknochen vermehren und den leeren Raum ausfüllen, den die Wurzeln zurückgelassen haben.

Nicht nur die Vermehrung der Zellen ist ein Wunder, sondern auch die Beendigung der Heilungsvorgänge ist ein Wunder. Denn wie jeder weiss, kann eine schwere Krankheit entstehen, wenn zum Beispiel einige Zellen nicht aufhören, sich zu vermehren, oder wenn die Signale zum Wachstumsstop ausbleiben.

Die Patientin hat dieses Bild zuhause gemacht und mir freundlicherweise zugeschickt, wofür ich ihr sehr danke! Sie habe die Wunde die ersten drei Tage jeweils zwei mal, und am vierten Tag noch einmal mit Solcoseryl bestrichen. Solcoseryl soll die Wundheilung beschleunigen.

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erstellt: 26.10.2022 - 06.04.2024