W. Weilenmann
Dr. med. dent.
Walter Weilenmann
eidg. dipl. Zahnarzt
dipl. Natw. ETH

Mitglied SSO, SSGS
und SSO-Zürich.

Die Zukunft der Zahnmedizin

Zusammenfassung des IEJ-Editorials 2014 von P. N. R. Nair

Klassische Infektionen wie Tuberkulose, Tetanus usw. entstehen wegen frei herumschwimmenden Bakterien. Sie können mit Antibiotika bekämpft werden.

Karies, Parodontitis, Pulpitis und Wurzelentzündungen entstehen hingegen durch Biofilme. Da nützen Antibiotika nichts, und die Krankheiten sind chronisch und unheilbar.

Weshalb können wir Biofilme nicht entfernen? Und was kann die Zahnmedizin nun tun?


Problem Biofilm-Krankheiten

11Biofilm.jpg
Karies (schwarz)
Tote Pulpa (braun)
Granulom (rot)
Knochen (gelb)
Abb 1) Transmissionselektronenmikroskop (TEM)
Die Biofilme haften am Dentin oder bilden Aggregate zwischen neutrophilen Granulocyten (links). Die Ultrastruktur (rechts) zeigt, dass sie aus Tausenden von Bakterien (BA) bestehen, die in einer Matrix zusammenkleben.

Der Biofilm im toten Zahn

  • 1697 entdeckte Antony van Leeuwenhoek mit selbst gebauten Mikroskopen "animalculi" in toten Zähnen (Dobell 1960).
  • 1894 erkannte W.D.Miller sie als Bakterien.
  • 1965 fanden Kakehashi et al bei Ratten, dass Bakterien Zahngranulome verursachen.
  • 1976 bewies Sundqvist dasselbe bei Menschen.
  • 1987 beschrieb PNR Nair, dass die Bakterien im Wurzelkanal in einer selber hergestellten Matrix festsitzende, symbiontische Gesellschaften bilden (heute "Biofilm" genannt). Zugleich zeigte er auf TEM-Bildern die Ultrastruktur des Biofilms (Abbildung 1).

Das Problem im Wurzelkanal

Alle Biofilme entlassen periodisch begeisselte Bakterien (swimmers). Sobald sie aus der Wurzel herausschwimmen, entsteht eine apikale Parodontitîs. Sie ist nie selbstheilend, sondern eine notwendige Immunantwort auf die swimmers. Der Biofilm findet die feinsten Verästelungen der Pulpa, sodass man ihn nicht vollständig entfernen kann.


Problem Wurzelbehandlung

Wie wird eine Wurzelbehandlung durchgeführt?

Gegenwärtig wird empfohlen, den Biofilm so zu entfernen:

  • den Wurzelkanal mit einer Feile mechanisch auskratzen
  • ihn dabei immer wieder mit NaOCl (1-5%) zu spülen
  • zuletzt mit EDTA die Kanalwände zu reinigen
  • bei einer mehrsitzigen Wurzelbehandlung eine antimikrobielle Einlage machen.

Das Problem: zurückbleibender Biofilm

Wurzelkanalinstrumente können nur etwa 60% der Kanalwände erreichen, welche Techniken man auch immer benutzt (Huebscher et al 2003, Peters et al 2001/2003). 2005 fanden Nair et al. Biofilme auch nach mehrsitzigen Behandlungen, und zwar in den

  • Nischen und Winkeln von Kanälen mit sanduhrförmigem Querschnitt oder scharfer Biegung
  • Querverbindungen zwischen den Hauptkanälen
  • Nebenkanälen (Abbildung 2)

Weshalb nützen Wurzelbehandlungen trotzdem?

Trotz der unperfekten Reinigung sind die meisten Wurzelbehandlungen erfolgreich, weil:

  1. die Reinigung reduziert die Bakterien unter die "kritische Anzahl" (Nair 2005)
  2. sie stört das mikrobielle Ökosystem und Habitat
  3. sie verändert den Zugang des Biofilms zum Parodont (Sundqvist & Figdor 2003), und
  4. die Körperabwehr trägt wesentlich zur Heilung bei.

Therapieresistente Granulome

Granulome können aus folgenden Gründen persistieren:

  1. Restlicher Biofilm je nach Grösse, Zusammensetzung und Lage: am Apex und in Seitenkanälen wachsender Biofilm (Abbildung 2) ist besonders kritisch.
  2. Infektion ausserhalb der Wurzelspitze (wie Aktinomykose, Nair & Schroeder 1984)
  3. Fremdkörperreaktion wegen überschüssigem Wurzelfüllmaterial (Nair et al. 1990)
  4. Irritation wegen endogenen Cholesterol-Kristallen (Nair et al. 1993, 1998)
  5. Zysten (Nair et al. 1993)
  6. Narbige Heilung (Nair et al. 1999).

Unerreichbare Nebenkanäle


Nebenkanal Abb. 2) Mikrofotografie
Region einer Wurzelspitze
BF = Biofilm, AC = Nebenkanal
PNR Nair et al. 2006

Anmerkung: Erfahrungsgemäss kann ein symptomloses Granulom nach einer Wurzelbehandlung einige Jahre später noch ausheilen. Dabei kann die Wurzelspitze durch Dentinoklasten resorbiert werden.


Zukünftige Möglichkeiten

Da Wurzelbehandlungen wahrscheinlich immer technisch unvollkommen bleiben werden, kommen moderne mikrobiologische und zellbiologische Lösungen in Betracht. Die Bakterien in den Biofilmen scheinen wichtige gemeinsame Eigenschaften zu haben (Abbildung 3).

Mikrobizide (Antibiotika, Desinfektionsmittel, Bakterizide usw.)

Schnell wirkende, dünnflüssige, tief einwirkende und gut verträgliche Microbizide helfen, den Biofilm zu kontrollieren. Biofilme sind jedoch 1000 mal robuster gegen Mikrobizide als einzeln herumschwimmende Bakterien. Und Achtung: Die Matrix ist voller abgestorbener Bakterien und ihrer Gene, weshalb Resistenzbildungen durch Genaustausch geschehen. Aus diesem Grund wirken Penicilline immer schlechter. Seit etwa 10 Jahren wirken Amoxicillin mit Clavulansäure besser ( (C. Rostetter et al. 2017).

Gen-Stillegung (gene silencing)

Im Biofilm kommunizieren die Bakterien durch chemische Signale: quorum sensing. So erfahren sie die Grösse und Zahl der Organismen im Biofilm. Bei unkritischen Werten werden aggressive Gene stillgelegt (Fire et al. 1998, Nobelpreis 2006). Dabei inaktivieren gewisse Moleküle die mRNA eines Gens, sodass dessen Protein nicht mehr entsteht. Diese Steuerung geschieht ohne chromosomale oder mutagene Veränderungen.

Gen-Editierung (genome editing)

Durch ‘cut and paste’-Verfahren (Komiyama 2013) können neuerdings Gene gezielt modifiziert werden. Dadurch tun sich sehr viele neue Möglichkeiten auf, z. Bsp. die Matrix aufzulockern usw.

Regenerative Endodontie

Auch wenn einzelne exstirpierte Zähne revascularisieren (Lin et al. 2013), kann ein verbliebener Biofilm "wie ein Elefant im Porzellanladen" einen späteren Misserfolg verursachen (Lin et al. 2014).

Hoffnung auf die Zähne der 3. Generation

Die Zukunft der Zahnmedizin scheint nicht in Prothesen, Implantaten und regenerierten Zahnnerven zu liegen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass neue, gesunde dritte Zähne die defekten ersetzen werden! Der Weg dazu führt über Stammzellen:

  • 2006 gelang es Takahashi & Yamanaka (Nobelpreis 2012), jede Zelle durch Einschleusen von vier Genen zu einer induzierten pluripotenten Stammzelle (IPS) zu reprogrammieren.
  • 2013 meldeten Tachibana et al., dass jede Körperzelle zu einer embryonalen pluripotenten Stammzelle verwandelt werden kann.
  • Und 2013 isolierten Volponi et al. isolierten Gingivazellen von Erwachsenen, vermehrten sie in vitro, mischten sie mit mesenchymalen Mäusezellen, implantierten das Gemisch in deren Nierenkapseln und beobachteten, dass es Zähne mit wachsenden Wurzeln bildete.

Lauter Gram-positive Bakterien


Gram positive Bakterien Abb. 3) Transmissionselektronenmikroskop (TEM)
Biofilm aus obiger Mikrofotografie
Pfeil: Gram-positive Zellwand
PNR Nair et al. 2006

Der ganze Biofilm besteht aus Gram-positiven, von Filamenten umgebenen Organismen. Diese Einheitlichkeit macht Biofilme im Prinzip zu einem aussichtsreichen gentechnischen Ziel.

Phagentherapie

Bakteriophagen sind Viren, die Bakterien angreifen. Sie sind äusserst zahlreich und in der ganzen Natur verbreitet. Auf jedem Bakterium kleben etwa 100 Bakteriophagen (Häusler und Kühn, 2022) und versuchen, in das Bakterium einzudringen. Im Bakterium drin vermehren sie sich nur, wenn sich die Bakterien vermehren. Im Prinzip könnte man Bakteriophagen gegen gram-positive Bakterien anstelle von Antibiotika eine gewisse Zeit lang in die befallenen Wurzelkanäle einschliessen.


Literaturverzeichnis

Dobell C (1960) Antony van Leeuwenhoek and his Little Animals. New York: Dover Publications.
Fire A, Montgomery MK, Kostas SA, Driver SE, Mello CC (1998) Potent and specific genetic interference by doublestranded RNA in Caenorhabditis elegans. Nature 391, 806–11.
Häusler Th, Kühne Chr (2022) Batkteriophagen - Wenn Antibiotika nicht mehr helfen - mit Viren gegen multiresistente Keime. www.suedwest-verlag.de
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erstellt: 09.10.2017 - 06.04.2024