W. Weilenmann
Dr. med. dent.
Walter Weilenmann
eidg. dipl. Zahnarzt
dipl. Natw. ETH

Mitglied SSO, SSGS
und SSO-Zürich.

Der Kaureflex − der komplizierteste und kraftvollste Reflex des Menschen

Die Kaumuskeln sind die stärksten Muskeln. Sie können mit bis zu 500 Kilopond zubeissen. Kaugummi kauen trainiert die Kaumuskeln.
Zugleich ist Kauen der komplizierteste Reflex. Er ist angeboren, wird aber laufend modifizert wenn Zähne erscheinen, sich abnutzen, ausfallen oder neue Füllungen erhalten. Zudem wird der Reflex häufig überaktiv (Bruxismus) bei Stress, im Schlaf, bei der Arbeit, beim Studieren, im Sport oder beim Musizieren usw. Nagen und Beissen sind spezielle Formen des Kaureflexes.

Der Kaureflex verbindet unbewusste und bewusste Hirnareale:
- Eingang: Somatosensorischer Cortex der parodontalen Drucksensoren
- Ausgang: Motorcortex von Kau- und Zungenmuskel
- Kopplung an Hirnstamm (Schluckzentrum und Verdauung)
- Kopplung an Hypothalamus (Hunger- und Sättigungszentrum) und Riechbahn
- Assoziationen zum limbischen Cortex (Gefühle, Lieblingsspeisen, Zähne zeigen beim Lächeln)
- und zur Amygdala (Angstzentrum, Zähne fletschen bei Aggression, Beissen im Kampf)
- und zum Neocortex (Erinnerung an Fehlbisse, an spezielle Esswaren, Vorlieben etc.)


Die Kaumuskeln

06Kaumuskeln.jpg

Die zwei äusseren Kaumuskeln
Die zwei inneren Kaumuskeln
Die drei Kieferöffner im Mundboden

M. masseter und M. temporalis
M. pterygoideus medialis und lateralis
M. mylo-hyoideus, genio-hyoideus und digastricus
M. temporalis
  M. masseter
M. pterygoideus lateralis
M. digastricus
(venter post.)
M. mylo-     
hyoideus     
M. genio-    
hyoideus    

Je vier Kaumuskeln links und rechts bewegen den Unterkiefer und zentrieren die Knorpelscheiben der Kiefergelenke, und je drei Muskeln öffnen den Unterkiefer.

Die beiden äusseren Muskeln
Der M. masseter und M. temporalis sind die stärksten Muskeln des Körpers und können mit einigen hundert Kilo zubeissen. Bei einseitiger Kontraktion ziehen sie den Unterkiefer etwas auf ihre Seite.
- Der M. masseter zieht den UK auch nach vorne.
- Der M. temporalis zieht den UK auch nach hinten.

Die beiden inneren Muskeln
Der M. pterygoideus medialis und lateralis schieben den Unterkiefer bei einseitiger Kontraktion auf die Gegenseite.
- Der M. pterygoideus medialis bildet zusammen mit dem M. masseter eine Schlinge und verstärkt den Kieferschluss.
- Der M. pterygoideus lateralis hat zwei antagonistische Hälften:
pars superior: Kieferpressen, Stabilisierung bei UK-Rückschub, zieht den Diskus nach vorne
pars inferior: Kieferöffnung, UK-Vorschub

Die drei Kieferöffner im Mundboden
Sie sind an der Mandibula und am Hyoid (Zungenbein) befestigt und ziehen von da aus das Kinn nach unten.

Muskelkette

Muskelketten

Passen die Zähne nicht gut zusammen, weil ein Zahn fehlt oder zu niedrig oder zu hoch ist, oder weil sich die Frontzähne nicht berühren, dann wird der Kaureflex etwas gestört, nicht nur beim Essen, sondern manchmal auch zwischen den Mahlzeiten und sogar im Schlaf.

Die Frau im Bild schiebt den Unterkiefer etwas nach vorne und senkt auch den Kopf leicht nach vorne ab, damit sie die Frontzähne deutlicher spüren kann. Dabei strengt sie nicht nur den M. masseter an (grün), sondern auch die Muskeln im Nacken, in den Schultern, im Rücken und teilweise sogar im Becken und einem Bein.
Wird diese Muskelkette zu oft aktiviert, so kann irgendwo eine Myogelose (schmerzhafte Muskelverhärtung) oder sogar ein Beckenschiefstand entstehen.

Gegen Kieferschmerzen

gemäss Türp und Schindler 2013

"Als empfehlenswert wurden Aufklärung, Okklusionsschienen, physiotherapeutische Selbstbehandlung und Akupunktur, als eingeschränkt empfehlenswert physikalische Therapie, Pharmakotherapie und psychologische Schmerztherapie beurteilt."

Weshalb wird keine Okklusionskorrektur empfohlen?


Kaureflex beim Säugling

Der angeborene Kaureflex ohne Backenzähne

0:10-jährige Patientin (13.04.2019 / 7704)

Der Kaureflex ist angeboren und funktioniert auch ohne Backenzähne.

Das Kind startet den Kaureflex, wenn es Appetit hat und sich zugleich schmackhafte Nahrung im Mund befindet.
Es schiebt das Kaugut mit der Zunge und den Wangen auf die Pilgern und zerquetscht es dort mit einem weitgehend unbewussten Kaureflex. Sobald der Speisebrei genügend weich und durchspeichelt ist, schluckt es den Bolus mit einem Schluckreflex zum Magen hinunter.


Beissreflex beim Kleinkind

Der Kaureflex mit Backenzähnen

Mit etwa 18 Monaten erscheinen die ersten Backenzähne. Sie besitzen Drucksensoren an den Wurzeln, die beim Kauen einige Tausendsel Millimeter weit gegen die Kieferknochen gedrückt werden. Dabei senden sie Signale zum Gehirn. Der Signalweg beträgt lediglich etwa 10 cm. Das Signal stoppt die Kaumuskeln und aktiviert die Mundöffner. In der Folge schieben die Zunge und Wange das Kaugut wieder auf die Zähne und startet der nächste Kauzyklus.

Der Beiss-Reflex zum Angriff

Etwa in diesem Alter entdeckt das Kind, dass es andere Leute beissen kann. Einige entwickeln daraus eine Waffe, um zum Beispiel aus Neid oder Eifersucht andere Kinder zu beissen.


Schutzreflex

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Schutz-Reflex vor Zahnfrakturen

Zum Kaureflex gehört unbedingt auch, dass er die Zähne vor Überlastungen und Frakturen schützt.

Dazu überwacht er beim Essen das Kaugefühl. Bei jedem fremdartigen Reiz stoppt der Kaureflex sofort und beginnt die Zunge, den Fremdkörper zu suchen. Wenn sie ihn gefunden und verschoben hat, sucht sie, ob ein Zahnschaden entstanden sei.

Im Bild: Bündner Nusstorte mit einem kleinen Stück einer Nussschale...

Nussschale anzeigen

Hintergrund: Auch Tiere haben diesen Schutzreflex. Pferde finden zum Beispiel jedes Kieselsteinchen, das im Hafer versteckt ist und schieben es mit der Zunge und den Lippen aus dem Mund heraus.


Nagereflex

Der Nage-Reflex und der tertiäre Engstand

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25-jähriger Patient (18.02.1977 / 4019)
Raster: 1cm
67-jähriger Patient (16.04.2019 / 4019)

Dieser Patient knirscht nicht und hatte nie einen Unfall. Trotzdem haben sich alle Frontzähne im Laufe von 42 Jahren etwas verschoben und abgenützt.

Dass die unteren Frontzähne immer enger nebeneinander stehen, kommt häufig vor. Das Phänomen heisst tertiärer Engstand. Die Erklärungen sind schwer zu beweisen.

Die Abnützung der Frontzähne kommt vom Nagen. Der Patient verschiebt kleine, harte Speisereste nach einer Mahlzeit nach vorne auf die Frontzähne und zernagt sie dort. Zudem zupft er mit den Frontzähnen sporadisch auch kleine Hautschuppen von der Ober- und Unterlippe ab und zerreibt sie zwischen den Frontzähnen.


Der Nage-Reflex auf Fingernägeln

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34-jähriger Patient (22.04.2019 / 4011)

Dieser Patient (ein Sohn des obigen Patienten) nagt seit seiner Jugend an den Fingernägeln. Trotzdem hat er nie Kiefergelenksschmerzen, obwohl PD Dr. Kurt Jäger 1997 im Buch "Stressbedingte Kaufunktionsstörungen" auf S. 26 unter Abb. 20 schreibt: "Fatale Habits: Langzeitliches Nägelkauen führt mit Sicherheit zur Funktionsstörung in Muskulatur und Kierfergelenk".

Fingernägel Finger des Vaters des Patienten


Unbewusster Bruxismus: Stressreflex

Knirschen

Beim Knirschen reibt man die Zähne kraftvoll gegeneinander. Dabei entsteht das typische knarrende Geräusch. Zudem werden beim Knirschen (anders als beim Pressen) die Zähne abgenützt.

Abnützungsformen:

Nach einigen Jahrzehnten des Knirschens entstehen spiegelglatte Knirschfacetten bei einzelnen oder allen Zähnen. Die Abnützung betrifft manchmal nur die Hälfte eines Zahnes, sodass ein langer schlanker Höcker übrig bleibt. Er muss dann so viele seitliche Schubkräfte aushalten, dass er eventuell plötzlich abbricht (Ermüdungsfraktur). Ungünstige Zahnformen, Zahnstellungen oder Abnützungen verändern die Drucksignale im Parodont. Dabei kann ein unbefriedigendes Kaugefühl entstehen, so dass man nur noch auf einer Seite kaut. Bei gewissen Abnützungen entstehen auch Zahnstellungen, bei denen man die Zähne besonders kräftig auf einem hintersten Zahn pressen kann. Dann sind Schmerzen im Kiefergelenk der anderen Seite möglich. In seltenen Fällen kann der Bruxismus auch einen ganzen Zahn spalten.

Männer : Frauen 1 : 2

Etwa 2-4 mal mehr Frauen als Männer bekommen Schmerzen wegen Knirschen und Pressen.

Ursache

Früher wurde angenommen (in den USA noch heute), die Ursache des Bruxismus seien schlechte Zahnformen, die zum gewohnheitsmässigen Knirschen, Zungenpressen oder Saugen an den Wangen verführen. In Europa hält man aber etwa seit 1980 den Stress für die Ursache des Bruxismus. Entsprechend ist Bruxismus häufig begleitet von Nacken- und Schulterverspannungen.


Knirschen auf Hyperbalancen  (30-jähriger Patient (01.04.2019 / 3188))

Bei der Knirschbewegung im Video wird auch das Kiefergelenk gequetscht. Der Patient hat aber keinerlei Schmerzen.

Hyperbalancen

Die Pfeile zeigen auf die beiden hintersten Siebner mit je einer grossflächigen Hyperbalance.


Langzeitfolgen des Knirschens  (76-jähriger Patient (09.04.2019 / 6311))

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Durch jahrelanges Knirschen verändert sich die Form der Zähne, die Geometrie der Knirschbewegung, die Kraft der Muskeln und die Belastung der Kiefergelenke. Alle diese Strukturen erweisen eine hohe Adaptationsleistung.

Der Patient sagt, dass er die Knirschbewegung nicht beherrschen kann und sich tagsüber ständig dabei ertappt. Der Abrasionen können ganz einfach mit Komposit 2-3 mm dick bedeckt werden.
Beachte die durchschimmernden Pulpen. Sie schmerzen bei sauren Speisen (wie Salatsauce).

Behandlung siehe "Verrückteste Bisshebung"


Hohes Alter

Immer noch kräftige Kaumuskeln

Der Reflex kann auch im hohen Alter noch so kräftig sein, dass wegen Überlastung Füllungen brechen oder Zähne zu schmerzen beginnen.

Implantate

Implantate haben keine Verbindung zum Gehirn, weshalb sie den Kaureflex nicht mitregulieren.


Bewusster Bruxismus: Bisskontrollen
Der bewusste Bruxismus ist meistens nur ein Teil eines komplizierten Leidens.
Der Patient presst immer wieder die Zähne zusammen, zum Beispiel alle 10 Sekunden und oft auch jede Sekunde einmal. Dabei spürt er einen Schmerz etwa auf der Stufe 3 der Schmerzskala 0-10. Es schmerzt jeweils an verschiedenen Orten, weil der Schmerz ausstrahlt. Und er findet keinen "richtigen Biss", bei dem alle Zahnkontakte stimmen und kein Schmerz entsteht.
Kompliziert wird es, weil zudem noch wandernde Schmerzen vorhanden sind: am Hals, im Ohr, auf der anderen Gesichtsseite, mal im Ober-, mal im Unterkiefer, im Bein oder im Magen usw. Deswegen besucht der Patient jede Woche mehrere Therapeuten: den allgemeinen Arzt, Orthopäden, HNO-Arzt, Zahnarzt, Internisten, Akupunkteur, Homöopathen, Physiotherapeuten, Masseur usw. Für manche von ihnen wird er zum "Koryphäenkiller", bis sie nach zahlreichen ergebnislosen Sitzungen weitere Termine ablehnen oder ihm eine teure Behandlung mit Extraktionen und Implantaten oder andere Operationen vorschlagen, mit denen er nicht einverstanden sein kann.
Es betrifft vor allem Patienten mit einem Hang zum Perfektionismus. Zudem haben sie eine Behandlungsangst weil bei ihnen schon einige Therapien die Sache eher verschlimmert als verbessert haben. Sie können den Schmerz zwar knapp ertragen, und er beschäftigt sie jeden Tag und jahrelang. Sie können nicht mehr arbeiten, und oft sind ihre Lebenspartner mit ihrer Empathie am Ende und distanzieren sich innerlich von ihnen.

Woher kommen die ausstrahlenden Schmerzen?

Sie kommen von der langen Suche nach dem "richtigen Biss". Leider sprechen die Zahnärzte vom "richtigen Biss" und von der IKP und RKP. Das sind aber nur Punktkonstruktionen für die Arbeit am Gipsmodell, auf 1/10 mm genau definiert. Im Mund sind die Z&aul;hne anders wie auf dem Gipsmodell veschieden empfindlich und beweglich. Wenn man die IKP und RKP aufsucht, entstehen natürlich verschiedene Druckgefühle. Sie spielen beim Essen keine Rolle, weil da die Zähne nie zusammengepresst werden!

  • Ausstrahlende Wangenschmerzen: Auf der Suche nach dem richtigen Biss spannt man die Kaumuskeln isometrisch an. In der Anspannung wird die Durchblutung vermindert (wie beim Knirschen). Macht man das zu oft, so übersäuern die Muskeln und verursachen ausstrahlende Wangenschmerzen bis etwa Stufe 6.
  • Ausstrahlende Zahnschmerzen: Beim Pressen drückt man zudem die Zähne in die Kieferknochen (etwa 20-60 μm). Dabei werden bei den belasteten Wurzelspitzen die Zahnnerven entsprechend gequetscht und gestaucht. Geschieht das zu oft, so entzünden sie sich und verursachen ausstrahlende Zahnschmerzen bis Stufe 9!.
  • Ausstrahlende Kauschmerzen: Langanhaltendes schonendes Kauen führt zu Zahnverschiebungen, die langsam zu deutlichen Okklusionsfehlern bei einem Zahn führen können. Infolgedessen wird er überlastet, kalt- oder warmempfindlich, und kann auch beim Essen Blitz- oder Druckschmerzen verursachen von Stufe 3-9.

Die Krux der ausstrahlenden Schmerzen ist, dass Orte weh tun, denen gar nichts fehlt. Folgedessen behandeln die Ärzte und Zahnärzte entweder etwas Gesundes oder finden umgekehrt nichts Krankes. Im ersten Fall tritt eventuell sogar eine Verschlechterung ein. In beiden Fällen wird der Patient enttäuscht und misstrauisch.

Mit ausstrahlenden Schmerzen kann man den richtigen Biss nicht finden!

Beispiel einer Fehlbehandlung bei ausstrahlenden Schmerzen

65-jähriger Patient (22.07.2019 / 7776) Fehlbehandlung? 22.03.2016: Die kleine Zahnlücke deutet auf starkes Knirschen hin. 10.08.2016: Die Füllung wurde verbreitert zum Lückenschluss. 10.11.2017: Die Füllung wurde durch eine Krone ersetzt. 22.07.2019: Die Wurzelfüllung vom 15.03.2018 ist jetzt ein echtes Problem.

Am 22.07.2019 kam der Patient zu mir. Seine Schmerzen waren grösser als früher, und der Zahn hatte jetzt eine eventuell nicht mehr heilbare Entzündung an der Wurzelspitze.
Ich hätte anders gehandelt. Die Füllung zu verbreitern ist für mich keine kausale Behandlung. Ich hätte nur die schiefen Kontaktflächen abgeflacht, die den Zahn nach hinten gedrückt haben. Er wäre dann von selber wieder nach vorne an seinen alten Ort gekommen, und die Lücke hätte sich von selber geschlossen. Und weshalb hat man eine Krone gemacht? Und weshalb kam die Wurzelbehandlung erst nach der Krone und nicht vorher? War der Zahn je devital? Und weshalb hat man zuletzt eine Knirscherschiene gemacht, die sich auf die schmerzenden Zähne abstützt?
Der Patient hat von mir eine NTI-Schiene bekommen. Bei ihr werden die schmerzenden Zähne absolut entlastet. Aber ob sie nützt, ist noch unklar.

Behandlungen bei wandernden Schmerzen sind oft wenig erfolgreich!

Weshalb ist der "richtige Biss" nicht so wichtig?

Der richtige Biss, bei dem sich alle Zähne gleichzeitig, gleichmässig und schmerzfrei berühren, ist nur einer von sehr vielen verschiedenen Bissen, die alle gleich schmerzfrei sind. Denn selbstverständlich darf man auf alle möglichen Arten zubeissen, und jedesmal sind die Zahnkontakte anders.
Das Gebiss ist keine perfekte Klappe wie zum Beispiel der Deckel des Laptops, der jedesmal beim Schliessen haargenau ins Schloss trifft. Vielmehr ist es ein biologischer, lebendiger Behelf zur Zerkleinerung der Nahrung. In der Jugend reihen sich die Zähen blind irgendwie zwischen Zunge, Wangen und Lippen in einem mehr oder weniger harmonischen Bogen ein, bei jedem wieder anders. Junge Zähne sind recht elastisch und haben spitzige Höcker. Im Laufe der Jahrzehnte werden sie mehr abgenutzt als jeder Schuh oder Schlüssel. Sie werden nicht nur spröder und flacher, sondern es kommen noch Zahnlücken, Kippungen, Füllungen und eventuell sogar Porzellankronen hinzu. Wegen diesen unzähligen kleinen und grossen Veränderungen passen die Zähne nie perfekt aufeinander. Trotzdem funktioniert das Gebiss ohne Weiteres 100 Jahre lang, länger als jede Maschine. Weshalb? Weil Gebiss und Kaureflex sehr anpassungsfühig sind und sich in wenigen Tagen an kleine Unstimmigkeiten anpassen.

Beim Essen muss man die Nahrung nur grob zerquetschen und nicht zu einem Feinstaub zermahlen. Dazu müssen die Zähne nur ungefähr und nicht perfekt zusammenpassen, ähnlich wie ein Nussknacker.

Ruheschwebe - oder weshalb schmerzt auch ein schlechter Biss nicht?

Bei den meisten Leuten befinden sich die Zähne die ganze Zeit in der Ruheschwebe. Meistens legt sich dabei die Zunge seitlich und/oder vorne bei der Zungenspitze locker zwischen die obere und untere Zahnreihe. Oft entwickeln sich auch andere, harmlose Gewohnheiten. Beispielsweise legt man die Zungenspitze über die unteren Frontzähne und zieht sie nach hinten, oder man stellt im Mund ein kleines Vakuum her durch Ansaugen von Wange und Lippe, oder man presst die Zunge leicht gegen die vorderen oder seitlichen Zähne usw. Diese Gewohnheiten finden sowohl in gewissen Schlafphasen als auch tagsüber statt.
Aber bei all dem entstehen keine direkten Zahnkontakte, ja sogar nicht einmal beim Essen. Auch beim Gehen, Arbeiten, Wandern, Lesen usw. berühren sich die Zähne bei den meisten Leuten nicht. Nur beim Schlucken berühren sie sich kurz und leicht.

Der normale Biss zeigt sich hauptsächlich darin, dass sich die Zähne nicht berühren!

Eine Bisskontrolle - verwirrend und wenig sinnvoll!

Machen Sie einmal eine Ausnahme: pressen Sie ihre Zähne zusammen und konzentrieren Sie sich auf Ihren "Biss". Finden Sie den "richtigen Biss"? Je nachdem, wie Sie zusammenbeissen, berühren sich die Zähne wieder anders. Und trotzdem funktioniert Ihr Gebiss perfekt (hoffentlich). Deshalb sind doch alle Bissstellungen gesund, in Ordnung und richtig!

  • Mit gesenktem Kopf stehend berühren sich bei leichtem Zubeissen vor allem die vorderen Zähne.
  • Hebt man Kinn und Kopf und nach oben, liegen die Zahnkontakte vor allem in der Mitte und hinten.
  • Im Liegen auf dem Hinterkopf berühren sich eher die mittleren Zähne.
  • Liegt man auf der Seite, so berühren sich wieder die vorderen Zähne wieder anders.
  • Stützt man den Kopf auf das Kinn, so entsteht ein grosser Druck auf den mittleren Zähnen.
  • Bei kräftigem Pressen berühren sich fast alle Zähne, aber gruppenweise verschieden fest. Man spürt zum Beispiel die vorderen ganz deutlich und die hinteren nur wenig.

Es gibt nur in der Theorie perfekte Zahnbögen, und auch diese haben nur in genau einer einzigen Stellung den maximalen Vielpunktkontakt. Nur 0.1 Millimeter nebendran sind die Kontakte mehr oder weniger zufällig. Der maximale Vielpunktkontakt spielt beim Essen überhaupt keine Rolle.

Fehlende Frontzahnkontakte - ein wichtiger Nachteil!

Etwa 20% der Menschen haben "Klasse-II-Verzahnung", bei der sich die Schneidehähne und manchmal auch die Eckzähne nicht berühren. Diese Leute spüren beim Pressen und Knirschen nur immer die hinteren Zähne. Diese sind kräftig, gross, mehrwurzelig und werden zur Hauptsache senkrecht belastet. Die Frontzähne sind hingegen sensibel, kleiner, nur einwurzelig und werden bei Belastung schief gedrückt. Dadurch entsteht ein unangenehmes Gefühl, das die Kaumuskeln sofort bremst. Diese automatische Bremse funktioniert auch im Schlaf, und darauf beruht das Prinzip der NTI-Schiene, die das nächtliche Knirschen hervorragend verhindert. Den Leuten, die am Tag Pressen, fehlen häufig die Frontkontakte.

Ohne Frontkontakte sind die Kaureflexe meistens kraftvoll, ungehemmt und wenig sensibel.

Typische Denkmuster

"Das muss man doch in Ordnung bringen!"
Das entgegnete mir eine Patientin nach meinem Vorschlag, vorerst einmal auf weitere Behandlungen zu verzichten. Sie solle stattdessen ihre Gedanken von den Zähnen ablenken und sich zum Beispiel zwei Wochen Wellness-Ferien in Österreich gönnen. Aber nein, lieber wollte sie im Moment mal weitere Arzttermine abmachen, bei denen ihre Übel endlich verschwinden würden.

"Wollen Sie nicht noch einmal den Biss kontrollieren?"
Nachdem ich den Biss schon mehrere Male kontrolliert und nichts mehr gefunden habe und die Sitzung langsam beenden wollte, machte der Patient diesen Vorschlag, obwohl er wusste, dass wir schon grosse Verspätung hatten und er jetzt aufstehen und gehen sollte.

"Hier tut es auch noch weh!"
Nachdem ich einige angeblich schmerzhafte Zähne untersucht und nichts gefunden habe, wies der Patient mit diesen Worten unklar auf andere Zähne hin in der Hoffnung, dass ich nun nochmals einige Tests und Kontrollen machen würde.

"Haben Sie den Biss jetzt nicht verschlimmert?"
Nachdem ich eine Stelle minim eingeschliffen habe, weil das Farbband dort durchgedrückt war, und der Patient mit einem Kontrollbiss gemerkt hat, dass dort jetzt der Druck etwas kleiner geworden ist.

"Haben Sie den Biss nicht zu stark verändert?"
Fragt mich ein Patient mehrmals, nachdem ich ihm eine Woche zuvor eine Stelle ganz minim eingeschliffen habe.

Der Teufelskreis

Wenn ein Schmerz ständig da ist, wird er zunächst zu einer häufigen Klage im Kollegen- und Familienkreis. Dann beginnen die ersten Behandlungen beim Hausarzt - sie nützen nichts. Dann beginnt man selber eine Lösung zu suchen und macht Termine bei anderen Ärzten ab. Langsam wird der Schmerz und die Suche nach einer Heilung zu einer Hauptbeschäftigung. Sie erstreckt sich bald über einige Jahre und wird zum Lebensinhalt.

Der Patient kann nun vielen anderen Beschäftigungen nicht mehr nachgehen und verzichtet ganz auf sie. Er verliert wegen seinen Gesundheitsproblemen auch soziale Kontakte. Stattdessen wird er zum Spezialisten für seine Krankheiten. Er sammelt Dutzende von Röntgenbildern aus verschiedenen Praxen mit immer denselben Zähnen drauf. Sie werden von den Fachleuten verschieden interpretiert, weil viele Krankheitszeichen kaum sichtbar sind.

Manchmal denken Aussenstehende, er brauche die Krankheit, um seine Zeit auszufüllen. Und manchmal vermuten sie, wenn eine erwiesenermassen wirksame Behandlung bei ihm nichts nützt, dass er immer neue Schmerzen sucht aus Angst vor der Freizeit, die er ohne Krankheit hätte - aber womit soll er sie ausfüllen, wenn er wegen den Schmerzen keine Freude mit Kollegen, Reisen, Hobbies und anderen begeisternden Ideen bekommen kann?


Kaureflex in der Demenz

Verschwinden des Kaureflexes

Die Demenz beginnt schon lange bevor man es merkt. Vom "ersten Stadium" spricht man, wenn der Betroffene pflegebedürftig wird. In der Sonnweid (Pflegeheim für Demenzkranke in Wetzikon) leben diese Leuten in sogenannten Wohngruppen, wo sie noch selber kochen und gemeinsam am Tische essen. Der Kaureflex ist also noch normal.

Erstes Aussetzen des Kaureflexes: Im zweiten Stadium muss der Patient auch nachts betreut werden, weil er manchmal aufsteht und verwirrt umherwandert. Beim Essen muss man ihm helfen. Nun werden seine Kaubewegungen unzuverlässig. Oft ensteht dann der Eindruck, dass er wegen Zahnschmerzen nicht kauen kann. Aber fast immer stellt sich heraus, dass der Kaureflex ausfällt und der Patient einfach "vergisst" zu essen. Mit weicher und flüssiger Löffelnahrung kann der Pfleger einen Schluckreflex auslösen und so den Patienten weiter ernähren.

Leben ohne Kaureflex: Im dritten Stadium kann der Patient nicht mehr selber gehen und liegt im Bett. Der Kaureflex ist verschwunden, der Schluckreflex arbeitet jedoch noch normal bei flüssiger Nahrung.

Der Beiss-Reflex aus Angst

Demente Patienten im zweiten Stadium beissen einen Besucher oder Pfleger, vor dem sie sich fürchten und der ihnen zu nahe kommt.

Auch im dritten Stadium können die Betroffenen, im Bett liegend, noch fletschend ihre Zähne zeigen, wenn sie sich vor jemandem fürchten und ihn abwehren wollen. Der Biss kann immer noch kräftig sein, rasch und völlig hemmungslos.

Copyright © 2024 Icon W. Weilenmann
erstellt: 14.04.2019 - 10.10.2024