W. Weilenmann
Dr. med. dent.
Walter Weilenmann
eidg. dipl. Zahnarzt
dipl. Natw. ETH

Mitglied SSO, SSGS
und SSO-Zürich.

Frakturlehre

Apatit und Kollagen: Dentin enthält 70%, Schmelz 98% Apatit. Der Rest ist Kollagen und Wasser. Der Apatit entsteht aus den Ionen Ca2+, PO43- und OH-. Letztere sind frei austauschbar mit Cl-- und F--Ionen. Die Kristalle wachsen entlang der Kollagenfasern und auch spontan in Zahnstein, Arterienverkalkungen, Nierensteinen usw. Der Apatit bewirkt die Druckfestikeit, das Kollagen die Zugfestigkeit und Elastizität des Zahns.

Frakturprävention bedeutet, die Ursachen der Frakturen zu verkleinern: es sind die hohen Höcker und das Knirschen. Hohe Höcker sind deshalb zu kürzen resp. tiefe Kaudellen aufzufüllen, und gegen das Knirschen ist das Komposit zu verstärken.

Frakturbehandlung und Ursachenbeseitigung gehören zusammen. Die Haarrisse und Frakturspalten werden zunächst erweitert, desinfiziert, evt. zusammengedrückt und dann mit Komposit gefüllt. Die Füllung darüber darf nur flache Höcker haben, weil sonst die Querkraft beim Kauen das Komposit spalten kann. Es muss verstärkt werden, weil es schwächer ist als Dentin.

Prognose: Wie lange hält ein reparierter Frakturzahn? Er wird wie alle Zähne durch Karies und Zahnstein gefährdet. Dazu kommt aber noch die Gefahr einer zweiten Fraktur wenn er überlastet wird.

Zahnärztliche Frakturlehre Zahnmedizinische Frakturlehre
Apatit und Kollagen

Fluorapatit,
durchscheinend wegen der amorphen Struktur





Rob Lavinsky
iRocks.com
CC-BY-SA-3.0



Kollagenfasern,
zwischen den Fasenr wachsen die Apatit-Kristalle.

Motiv dieser Seite: Einige Patienten mit einem gebrochenen Zahn kommen von weit her (sogar per Flugzeug und mit Übernachtung), um den Zahn zu reparieren. Diese Frakturlehre soll auch andere Zahnärzte dazu motivieren, frakturierte Zähne zu reparieren und zu erhalten.


Ziel der Frakturlehre
Frakturierte Zähne gelten gemeinhin als verloren und nicht erhaltenswürdig. Das ist ein Vorurteil. Eigentlich sollte jeder Zahnarzt fähig (und willens) sein, Frakturen sowohl zu verhindern als auch zu reparieren.

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Nur 4 Jahre später fällt ein Stück der Füllung heraus. Es wird ein Haarriss sichtbar. Er ist zweifellos ein Fraktur-Vorzeichen. Aber noch ist weder der Zahn entzwei noch der Nerv abgestorben. Spätestens jetzt sind eine Entlastung und eine Verstärkung des geschwächten Zahnes notwendig.

Verhinderung und Reparatur von Frakturen

60-jährige Patientin (11.01.2021 / 1601)

Ätiologie der Zahnfrakturen
Zähne ertragen zehnmal weniger Zug als Druck. Hohe Zugspannungen entstehen beim Kauen auf Zähnen mit hohen Höckern und beim Knirschen. Nach einer gewissen Anzahl von Belastungen verursachen die Querkräfte einen Haarriss und schliesslich die Fraktur. Im Gegensatz zum Knirschen hat Pressen keine Spaltwirkung. Vereinfacht dargestellt gelten die folgenden Gleichungen:

Fraktur  =  Querkraft × Belastungszyklen (Ermüdungsfraktur bei Bruxismus)

Fraktur  =  steile Höcker + harte Nahrung (Gewaltfraktur bei abgenützten Füllungen)

Fraktur  =  stets hohe Kaukraft (Überlastungsfraktur beim heavy biter, bei kleinem Restgebiss und bei Implantaten)

Fraktur  =  Belastung einer Schwachstelle (Schwachstellenfraktur nach Wurzelbehandlung)


steile Höcker + harte Nahrung

FQ

Die Querkraft FQ entsteht beim Kauen fester Nahrung zwischen den steilen Höckern. Sie bewirkt an der Basis der Höcker dreimal grössere Zug- und Druck­kräfte (Hebelgesetz). Hier entstehen Haarrisse und keilförmige Defekte.

flache Zähne + Knirschen

FQ

Die Querkraft FQ zieht beim Knirschen die beiden Höcker auseinander. Die Frakturgefahr ist am grössten direkt unter der Fissur wegen den hier senkrecht verlaufenden Dentinkanälchen und wegen dem hier besonders dünnen Pulpadach. Zwar ist FQ kleiner als bei hohen Höckern (wie oben), aber dafür entstehen beim Knirschen viel mehr Belastungs­zyklen als beim Kauen.
Weshalb Frakturen in der zweiten Lebenshälfte zunehmen

Die Zugfestigkeit des Dentins ist der Schwachpunkt der Zähne.
Junge Zähne haben an der Schmelz-Dentin-Grenze eine Zugfestigkeit von bis zu 90 MPa. Sie sinkt im Alter in der Pulpanähe bis auf 12 MPa (vgl. hier). Grund ist die altergemässe Austrocknung der Gewebe.
Zudem steigt die Anzahl der Belastungen kontinuierlich. Das führt rein physikalisch zu einem fortwährenden Risswachstum.

Weshalb ein Zahn mit Haarrissen reparierbar ist

Das E-Modul und das Hooke'sche Gesetz sind ebenso bedeutungsvoll wie die Zugfestigkeit. Das E-Modul misst die Elastizität, das Hooke'sche Gesetz berechnet die elastische, schadenfreie Dehnung. Das E-Modul von Dentin und Komposit beträgt 15 GPa, von Schmelz und Fensterglas 70 GPa. Aus ε = σ / E folgt, dass Dentin vier mal mehr schadenfrei gedehnt werden kann als Schmelz oder Fensterglas.
Das bedeutet, dass unter einem Haarriss das Dentin noch absolut intakt ist.

Weshalb die Höckerspitzen und Zahnhälse das Mass des Knirschens anzeigen

Flach abgeschliffene Höckerspitzen zeugen von starkem Knirschen. Sie weisen nicht selten auch zentrale Grübchen auf. Dort befanden sich die etwas weicheren ältesten Prismenstäbe des Schmelzes.
Am Zahnhals entstehen die höchsten Druckspannungen weil er weder durch Schmelz noch durch Knochen verstärkt wird. Die Spannungen beschleunigen die Korrosion des Zahnhalses, weshalb er beim Zähneputzen besonders rasch abgetragen wird.

Unterschiedliche Entwicklungsdauer

Karies: betrifft auch Kinder. Entwicklungsdauer: 200 Tage
Flache Höcker: frühestens bei Jugendlichen, Knirschdauer mind. 10 Jahre
Zahnhalsdefekte + Haarrisse: typisch bei Patienten mittleren Alters
Kerben im Zahnhals: stammen häufig aus der Zeit vor der Pensionierung

Zug- und Druckfestigkeiten [MPa]
Alle Werte gelten ± 50%. Im Einzelfall sind sie alters- und geschlechtsabhängig. Und zudem kommt es auf die Messanordnung darauf an, ob längs oder quer gemessen wird u. v. m.
DruckfestigkeitZugfestigkeit
Knochen150100
Apatit10010-20
Komposit20035-60
Schmelz30010
Dentin20012-90
Kollagen1090
Eiche50100
Die vier typischen Frakturprozesse

Ermüdungsfraktur: Eine kleine Querkraft drückt Millionen mal gegen einen Höcker. Schliesslich bricht er wegen einer Kleinigkeit.

Gewaltfraktur: wenn ein Zahn wegen einem Unfall zerbricht.

Überlastungsfraktur: wenn ein Zahn gegen ein Implantat beissen muss, oder wenn jemand sehr kraftvoll kaut, oder wenn keine anderen Zähne mehr vorhanden sind.

Schwachstellenfraktur: Eine grosse Füllung schwächt einen Höcker. Er bricht wegen einer kleinen Kraft. Eine Wurzelbehandlung schwächt die Wurzel. Sie bricht 6 mal häufiger als eine ohne Wurzelbehandlung.


Keilförmiger Defekt = Querkraft × Belastungszyklen + Zähneputzen

13_HeavyBite139.jpg
Das Zähneputzen reibt beim Zahnhals das Dentin weg. Es entsteht ein keilförmiger Defekt (blauer Pfeil). Das Dentin wird dort durch die Belastung von hinten (roter Pfeil) wegen der Verbiegung des Zahnes über dem Schmelz (rot gezeichnet) immer wieder gequetscht. Deshalb wird es dort weich und kann mit der Zahnbürste abgerieben werden.
67-jähriger Patient (06.02.2024 / 139)

Querkraft

Der Patient spürt jeweils beim Erwachen am Morgen, dass er die Zähne im Schlaf fest gegeneinander gepresst hat. Bei ihm bewirkt die Zahnstellung der Frontzähne beim Pressen eine Querkraft von hinten nach vorne.

Die Schneidekanten beider mittlerer oberer Frontzähne sind abgesplittert. Das bedeutet, dass der Patient nicht nur presst, sondern auch von hinten nach vorne knirscht. Deshalb konnten die unteren Frontzähne die Schneidekanten der oberen Frontzähne absplittern.

Zudem haben die Zahnhälse der oberen Frontzähne keilförmige Defekte. Sie zeigen mit aller Deutlichkeit den Zusammenhang mit der Querkraft. Diese "verbiegt" die Fronzähne, quetscht dabei die Zahnsubstanz beim Zahnfleischrand, welche dadurch weicher wird und beim Zähneputzen abgetragen wird.


Klassifikation
A) Vorzeichen: Kaltempfindlichkeit, Kauschmerzen sowie Zahnhalsdefekte mit einer scharfen Kerbe sind Zeichen hoher Kaukräfte.
B) Haarrisse: Haarrisse im Randwulst und unter den Füllungen und sind der erste Schritt des Frakturprozesses.
C) Frakturen: Das Risswachstum endet in vier Frakturformen mit je unterschiedlicher Prognose.

A) Vorzeichen: Kaltempfindlichkeit und Kauschmerzen

1) Kaltempfindlichkeit wegen Hyperbalance und anderen Überlastungen
Eine Querkraft drückt einen Höcker zur Seite (1). Der Alveolenrand funktioniert als Drehpunkt. Der Apex bewegt sich zur Gegenseite. Dabei wird die Pulpa im apikalen Desmodont gedehnt. Sie entzündet sich rein mechanisch (ohne Bakterien) und reagiert überempfindlich auf Kälte.

2) Scharfer Aufbissschmerz und steile Höckerwände
Beim Kauen wird ein unsichtbarer Haarriss in der Fissur oder unter einer Füllung gedehnt. Es entsteht sofort ein pulpaler Schmerz. Grosse Frakturgefahr auch ohne Bruxismus.

3) Dumpfer Schmerz nach dem Essen im Abrasionsgebiss
Die schlechte Schneidleistung der flachen Zähne wird durch höhere Kaukräfte kompensiert. Sie belasten das Desmodont, das nach dem Essen dumpf zu schmerzen beginnt.

B) Erste Schäden: eingekerbter Zahnhals und Haarriss

4) Eingekerbter Zahnhals
Die Kerbe im Zahnhalsdefekt zeigt den Ort der Spannungsspitzen (Zug und/oder Druck). Manchmal ist in der Kerbe auch ein Haarriss sichtbar. Je tiefer der Defekt, desto weicher das Dentin und grösser die Gefahr einer Karies oder Pulpitis. Die Frakturgefahr nimmt im hohen Alter erschreckend schnell zu (ca. ab dem 90. Lebensjahr). Dann können in wenigen Jahren wegen Mundtrockenheit, Karies und Zahnhalsdefekten etliche Zähne abbrechen.

5) Haarriss (Schaden durch Zug)
Haarrisse sind inkomplette Frakturen. Das Risswachstum verlängert die Haarrisse bei jedem Aufbissschmerz um einige µm. Es kann Jahre dauern bis zur kompletten Fraktur. Der Haarriss kann zentral oder seitlich liegen, nur bis zur Zahnmitte reichen oder den ganzen Zahn längs von mesial bis distal teilen.

C) Frakturen: Zahn ergänzen, reparieren oder extrahieren

6) Defektfraktur: sehr gute Prognose
Ein Höcker fehlt oder hängt beim Zahnhals noch etwas am Desmodont. In letzterem Fall lässt er sich mit wenig Kraft 1 mm oder mehr zur Seite kippen. Am besten wird er mit einer kleinen Anästhesie ganz entfernt. Nun liegt eine gewöhnliche Defektfraktur vor mit sehr guter Prognose. Der fehlende Teil wird einfach mit Komposit ergänzt.

7) Lateralfraktur: sehr gute Prognose
Der Spalt reicht bis zum mittleren Wurzeldrittel. Der abgebrochene Höcker lässt sich nur wenig bewegen. Nach der Erweiterung des Spaltes wird beim Dehnen sichtbar, ob dass der Spalt wenige Millimeter unter dem Zahnfleisch im seitlichen Parodont endet. Je nach der Geschicklichkeit des Zahnarztes und der Situation im Mund kann eine tief unter das Zahnfleisch reichende Füllung gelegt werden oder wird das Fragment in die Kompositfüllung eingebaut.

8) Zentralfraktur: sehr gute Prognose
Wie eine Lateralfraktur, aber der Spalt liegt mitten im Dach resp. im Boden des Pulpacavums. Eine allfällige Entz¨ndung längs des Frakturspaltes ist analog zu einer parodontalen Entzündung in einer Furkation Das resultierende Tunnel kann mit der Interdentalbürste gesund erhalten werden.

9) Wurzel-Längsfraktur: Prognose schlecht
Der Frakturspalt beginnt entweder beim Zahnhals (dann ist er sichtbar und sondierbar) oder er ist (meist unbemerkt) eine Fortsetzung einer Lateral- oder Zentralfraktur und reicht bis über die Alveolenmitte. In diesen Fällen sind Reparaturen nicht möglich resp. führen zu einem Misserfolg.

A) Schmerzhafte Vorzeichen

1

2

3

Abfluss-
rillen 
nach
dem

Einschleifen
Pulpa-
höhle
scharfe
Kerbe
Alveolar-
knochen
Schmelz

B) Erste Schäden

4

5

C) Frakturen

6

7

8

9

Klassifikation

Diagnostik

Die Haarrisse entstehen zwar immer nur an einer Oberfläche. Sie sind zuerst aber nur mikroskopisch klein. Manchmal sieht man sie erst auf einer intraoralen Aufnahme, die den Zahn stark vergrössert am Bildschirm zeigt. Das Risswachstum bis zur Fraktur kann viele Jahre dauern. In dieser Zeit entstehen nicht selten sporadische Schmerzen. Aber sind die Schmerzen ein Vorzeichen einer Fraktur oder bloss Muskelschmerzen?

Die Diagnostik umfasst die Anamnese (bereits bei der Terminabsprache am Telefon),
die Inspektion mit Anfärben,
die Probebohrung beim Vorliegen von Haarrissen, und
die Exkavierung der Haarrisse und eventuell auch der Pulpakammer bei Devitalität.

Anamnese
Schmerzen wegen Karies
Typisch sind ein Loch, Schmerz erst seit kurzer Zeit, dann aber stundenlang, besonders nach Süssspeisen, und auch wenn man nichts zerkaut. Schliesslich kommt die gänzlich schlaflose Nacht.
In der Anamnese kann man versuchen, Schmerzen wegen einem Frakturprozess und wegen Knirschen zu unterscheiden. Bei einer knirschbedingten Fraktur sind beide Schmerzbilder vorhanden.

Schmerzen wegen Okklusionsfehlern: Typisch ist der viele Monate lang nur sporadisch auftretende kurze Blitzschmerz beim Essen im Moment des Zubeissens. Schonendes Essen und Süssspeisen sind schmerzfrei. Meistens ist eine Kaltempfindlichkeit vorhanden.

Knirschbedingte Muskelschmerzen: Sie sind schon morgens im Bett spürbar, evt. nur als ein Druck oder eine Verspannung. Manchmal entsteht ein dumpfer Wangenschmerz nach dem Essen. Starke Knirscher erwachen morgens mit Migräne an der Stirn oder sogar mitten in der Nacht mit einem Wangenschmerz. Letzterer kann sich zu einem stundenlang pochenden Schmerz steigern.

Die folgenden Fragen kann auch die Dentalassistentin am Telefon stellen.

FrageErste Diagnose und
prospektive Therapie
Ist ein Zahn kaltempfindlich? Okklusionsfehler, evt. mit
Haarriss
 → Einschleifen
Entsteht ein Blitzschmerz beim Essen? 1
Speziell beim Biss auf ein kleines hartes Körnchen?
Ist der Zahn warmempfindlich? 2 Zeichen der Nekrose
Kommt der dumpfe Schmerz erst nach dem Essen? 3 Okklusionsfehler und
Bruxismus
 → Einschleifen und Jig
Schmerzt es schon beim Frühstück?
Schmerzt es schon beim Erwachen? 4
Erwachen Sie nachts mit Schmerzen? schwerer Bruxismus
mit hoher Frakturgefahr
 → Jig
Haben Sie auch Migräne in der Stirn?
Haben Sie Nacken- und Schulterverspannungen, Physiotherapie? 5

Die Kombination von Okklusionsfehlern und Bruxismus mit Zahnschmerzen und Muskelschmerzen kommt häufig vor. Bruxismus ebnet die Kauflächen ein oder vertieft die Kauzentren, was beides eine Frakturgefahr zur Folge hat.

1 Scharfer Schmerz im Moment des Zubeissens. Ursache: eine extreme Quer- oder Spaltkraft. Der Schmerz tritt oft auf, wenn man auf ein kleines, hartes Körnchen beisst. Grosse Frakturgefahr!

2 Warmschmerzen entstehen, wenn die Pulpa Gas enthält. Die Wärme dehnt es und es resultiert ein Druck auf das vitale Gewebe. Die Pulpitis ist evt. irreversibel.

3 Dumpfer Schmerz nach dem Essen. Ursache: zu hohe Normalkraft. Typisch im Abrasionsgebiss. es fehlen Abflussrillen und spitzige Höcker. Flache Zähne haben eine schlechte Schneidleistung. Die Bisskraft ist habituell hoch.

4 Spannungsgefühl in Wange einseitig oder beidseitig. Oft kombiniert mit Steifigkeit in Schultern und Nacken und mit anamnestischer Physiotherapie.

5 Starker Bruxismus oft kombiniert mit Migräne in der Stirn. Viel Betroffene berichten von einem momentan besonders hohen Stress. Frakturgefahr auch bei Zähnen ohne Karies und ohne Füllung.


Inspektion
Die Röntgendiagnostik ist nur bei Wurzelfrakturen hilfreich, wenn sich die Fragmente auseinander bewegt haben oder wenn entlang des Frakturspaltes eine parodontale Tasche entsteht.
Morphplogische und funktionielle Befunde weisen auf die Ursachen des Frakturprozesses:
− Zahnhalsdefekte,
− Zahnbeweglichkeit,
− Parallelität und Winkel der Höckerabhänge,
− Anfärben: Zahl der Kontakte links und rechts,
− Beachtung der schwachen und fehlenden Kontakte.

Was beachten?
okklusale AbnützungSind die Höckerabhänge parallel?
Sind Abflussrillen vorhanden?
Flachknirscher oder Tiefknirscher?
ZahnhalsdefekteGibt es Zahnhalsdefekte mit Kerben?
Funktionelle Mängel Sind die angefärbten Kontakte beidseitig ähnlich verteilt?
Gibt es schwach angefärbte oder fehlende Kontakte?
Ist ein Zahn erhöht beweglich?
HaarrisseIst ein Haarriss in einem Randwulst sichtbar?

Okklusale Abnützungen

Tiefe Verzahnung  

keine Abflussrillen, Verdacht auf Haarriss.

-7 mit food impaction und Kaltempfindlichkeit
Ursache: Schlifffacetten auf schiefen Ebenen

Tiefe Kaugrube
39-jährige Patientin (19.08.2020 / 7666)

Zahnhalsdefekte

Funktionelle Mängel

Kein Gruppenkontakt

linke Seite: Kauschmerz trotz neuer Füllung, Wurzelbehandlung, Knirscherschiene und Schonkost. Ohne Kauen kein Schmerz.

+6 Kauschmerz
Ursache: Kein Gruppenkontakt
kein Gruppenkontakt
37-jährige Patientin (12.10.2020 / 8024)

Mögliche Therapie:

- Der Arbeitsvorkontakt bei Zahn 26 sollte einge­schliffen werden. Zudem ist sein 90°-Winkel (blau) eine Frakturgefahr.
- Falls 26 weiterhin schmerzt, kann die Arbeitsfläche von Zahn 27 (kurze weisse Linie) mit Komposit zu einem Gruppenkontakt erweitert werden (parallel zur blauen Linie).
- 26 wird noch mehr entlastet, wenn auch bei Zahn 25 die Kaufläche mit Komposit vergrössert wird.


Haarrisse

-7 Haarriss im mesialen Randwulst
Ursache: Ermüdung neben Amalgam und kleine Karies
verdächtiger Haarriss
65-jähriger Patient (23.11.2020 / 2062)

Knirschen ohne Zahnhalsdefekt

1+1 mit Rezessionen wegen Knirschen, aber ohne Zahnhalsdefekte weil nur 1 x kurz Zähneputzen pro Tag Knirschen ohne Zahnhalsdefekt
39-jähriger Patient (14.12.2020 / 8036)

Intraoperative Diagnostik der Haarrisse
Bei der Probebohrung im Haarriss zeigt sich, ob der Nerv noch lebt oder ob eine Wurzelbehandlung nötig ist. Die Probebohrung wird trocken, langsam und ohne Anästhesie ausgeführt mit einem neuen Rosenbohrer, ∅ 0.6 mm, 300 rpm, 0-5 Gramm Anpressdruck. Stop beim ersten Vitalitätszeichen.
Die Haarrisse erscheinen zuerst auf den Randwülsten, in den Fissuren und in den Zahnhalsdefekten mit Kerbe. Ihre Tiefe ist nicht ersichtlich. Eine dunkle Verfärbung weist jedoch auf ein hohes Alter und eventuell auf ein fortgeschrittenes Risswachstum.

Intraoperative Diagnostik durch Probebohrung im Haarriss
Falls ein Zahn mit verdächtigem Haarriss immer wieder schmerzt, wird die intraoperative Diagnostik notwendig. Dazu wird die Fissur eröffnet und eine eventuell anliegende Füllung entfernt. Häufig erscheinen unter der Füllung mehrere Haarrisse in verschiedenen Richtungen. Die wichtigste Frage ist, ob die Pulpa noch vital ist.


Was intraoperativ beachten?
Pulpa vital − anamnestisch Blitzschmerzen
− kurzer Präparationsschmerz bei der Probebohrung
− Kaltempfindlichkeit
Pulpa kaum vital
oder devital
− anamnestisch lange anhaltende Schmerzen auf Wärme
− lang anhaltender Bohrerschmerz
− die Probebohrung liefert fötide Späne
Stresstest Man dehnt die Kavität mithilfe eines Spatels leicht auseinander.
− Entsteht ein Schmerz, so sind die Höcker instabil und sollten gekürzt werden.
− Bricht ein Höcker ab, so hat der Höckeraufbau trotzdem eine sehr gute Prognose.

Haarrisse erfordern eine Reparatur mit verstärktem Komposit, sonst wachsen sie schmerzhaft weiter bis zur Fraktur. In London werden solche Zähne mit einem orthodontischen Band geschient und so vor weiterem Risswachstum bewahrt.

-7 mit Kauschmerz
Ursache: Knirschen + tiefe Kaugrube
Gespaltener Randwulst
43-jährige Patientin (05.10.2020 / 7435)

Seit 2 Jahren Schmerzen auf Kälte, Wärme und beim Kauen. Amalgam mit vertiefter Zentrik. Höcker links und rechts des Amalgams angefärbt (=Spaltwirkung). Kauen unmöglich.

+6 Beide Randwülste mit Haarriss
Ursache: Knirschen + tiefe Kaugrube

Haarriss unter Amalgam
59-jährige Patientin (19.11.2020 / 4010)

Therapie: Höcker und Gegenzahn gekürzt und flache Kompositfüllung. Der Zahn beruhigte sich in den nächsten Tagen. Er wurde aber bald extrahiert.

links: steile Höcker, Haarrisse in der Fissur und in mesialen und distalen Randwulst.
rechts: Der Höcker wurde entfernt und der Zahn wurzelbehandelt. Aufbau 3 Monate später.

6- Kauschmerz
Ursache: Kauen auf steilem Höckerwinkel
Steiler Winkel 37-jähriger Patient (18.06.2019 / 2940)

6- WB vor 15 Jahren
Ursache: Knirschen im Leistungssport
Zahnhalsdefekt mit Haarrissen 76-jährige Patientin (10.02.2020 / 753)


Diagnostik der Frakturen
Bei der Inspektion werden die Geometrie der Kauflächen sowie der Grad des Bruxismus beurteilt.

Die Lateral-, Zentral- und Wurzelfrakturen haben fliessende Übergänge. Sie zeigen sich erst nach der sauberen Darstellung des Cavumbodens und der Wurzelkanaleingänge. Werden die beiden Fragmente auseinandergedrückt, so wird der Verlauf des Frakturspaltes deutlicher.

Die tieferen Frakturen lassen sich erst diagnostizieren, wenn der Frakturspalt bis in den Cavumboden erweitert ist. Besonders schwierig sind kombinierte Frakturtypen. Sie haben eine schlechte Prognose. So zum Beispiel bei einem oberen Sechser eine Zentralfraktur zwischen der distobukkalen und palatinalen Wurzel, jedoch eine Wurzelfraktur in der mesiobukkalen Wurzel.

Defektfraktur

verläuft supraalveolär.
Höcker fehlt oder ist sehr locker.

Die betroffenen Zähne sind meistens kariesfrei und nach der Fraktur wieder schmerzlos.
Ein an der Gingiva noch angewachsener frakturierter Höcker wird entfernt und der subgingivale Defekt nach sorgfältiger Matrizenlegung restauriert.

6+ irritiert die Zunge
Ursache: Knirschen + tiefe Kaugrube
Defektfraktur 67-jähriger Patient (06.01.2020 / 253)
Lateralfraktur

endet 1-2 mm tief intraalveolär.
Beweglichkeit klein.

Der frakturierte Höcker ist beweg-lich, der restliche Zahn fest.
Geht der Spalt tiefer als 2 mm in die Alveole, so beträgt die Prognose wegen der schlechten Sicht nur 50%. Das Bild zeigt einen Misserfolg nach 1.5 Jahren, weil er Spalt nur ungenügend abgefüllt worden ist.

5+ vitaler Zahn
Ursache: Höckerwinkel, Knirschen
Lateralfraktur
67-jähriger Patient (13.11.2014 / 996)
Zentralfraktur

endet interradikulär
Praktisch keine Beweglichkeit.

Beide Fragmente sitzen gleich fest. Der Cavumboden ist nur etwa 2 mm dick, weshalb er sich gut mit Komposit verschliessen lässt.
Zentralfrakturen kommen nur bei mehrwurzeligen Zähnen vor und verlaufen meistens in sagittaler Richtung.

+7 mit zwei Frakturspalten
Ursache: Höckerwinkel, Knirschen
Zentralfraktur
75-jähriger Patient (10.03.2015 / 633)
Wurzelfraktur

endet mehr als 2 mm tief intraalveolär

Der Frakturspalt ist am Zahnfleischrand sondierbar und die Krone nicht gespalten.
Devitale Zähne sind frakturgefährdeter als vitale.

+6 Fraktur 20 Jahre nach Endo
Ursache: Endo, Bruxismus
Wurzelfraktur
60-jährige Patientin (15.02.2017 / 123)

Prognosen und Misserfolge

Die Diagnose erlaubt eine erste Prognose und eine Abschätzung der Erfolgsaussicht. Sie ist auch für den Patienten eine zentrale Information vor dem Behandlungsentscheid.

Faktor Zahnarzt: Die Prognose der Reparatur eines gebrochenen Zahnes hängt vor allem (wie alles in der Zahnmedizin) von der Geduld und Geschicklichkeit des Behandlers ab. Zudem entscheidet das Terminmanagement der Praxis mit, weil die Behandlung wegen einer unerwarteten Wurzelbehandlung umfangreicher werden kann als vorgesehen.

Vorzeichen und Haarrisse ohne Fraktur: Die Prognosen sind so gut, dass der Zahn erfolgreich behandelt werden kann. Hindernde Umstände sind einzig Geldmangel, Ungeduld und Desinteresse seitens des Patienten.

Defektfrakturen: Sie haben erfreulicherweise die gleiche Prognose wie alle gewöhnlichen Höckerüberdeckungen mit Komposit. Nach einer Defektfraktur gibt es ja keinen Haarriss und keinen Spalt mehr. Offenbar ist es klinisch kein Problem, dass das Komposit oft bis drei Millimeter subgingival zu liegen kommt.

Zentral-, Lateral- und Wurzelfrakturen: Bei diesen Frakturen verbleiben restliche Haarrisse und Spalten. Sie sind mechanische Schwachstellen und bieten zudem auch Platz für den Biofilm. Deshalb beträgt ihre Survivalrate nur 80%, 70% resp. 60% (siehe Grafik).


Vorzeichen und Haarrisse (noch ohne Fraktur)

Zu diesen Fällen gehören alle Zähne, die wegen Kauschmerzen eingeschliffen werden. Die Survivalrate nach sieben Jahren über 90% (200 Fälle, ca. 55% Frauen).
Misserfolge stellen sich vor allem bei parodontal geschädigten Zähnen ein, die sich trotz Einschleifen weiter lockern. Bei festen Zähnen sind die Misserfolge sehr selten. So zum Beispiel wenn ein Haarriss übersehen oder unterschätzt wird, letzterer weiter wächst, die Pulpa nekrotisch wird, und der Zahn schliesslich eine Wurzelfraktur erleidet.

Zentral-, Lateral- und Wurzelfrakturen

Misserfolge entstehen, wenn ein Bruchspalt nicht vollständig abgefüllt ist. Der Biofilm im Bruchspalt wird vom Sulcus fluid ernährt und wächst langsam (nach Wochen oder Monaten) ins Desmodont hinein. Typisches Beispiel: wenn eine vermeintliche Zentralfraktur auch eine teilweise Wurzelfraktur ist.

Eine andere Art von Misserfolgen entsteht bei Spalten, die schon viele Monate offen sind. Darin befinden sich impaktierte Speisereste, und der Biofilm reicht bis ans Desmodont. Er kann schon wenige Tage nach dem Verschluss des Bruchspaltes eine schmerzhafte Schwellung in Form einer Epulis verursachen.

Bildet sich um den eingeschlossenen Biofilm eine Tasche oder öffnet sich eine Furkation, so können die Exsudate entweichen und wird der Zahn wieder schmerzfrei. Seine Prognose entspricht dann der eines Zahnes mit einer parodontalen Tasche. Finden die Exsudate keinen Abfluss, so bleibt der Zahn symptomatisch und elongiert rasch. Der intraalveolär eingeschlossene, unzugägliche Biofilm kann nur noch durch eine Wurzelamputation, Hemisektion oder Extraktion entfernt werden.

52Misserfolg4010.jpg
Ansicht von mesial
Ansicht von distal

Gewollte Misserfolge

not-okay
Patientin 59 J. / 19.11.2020 / 4010 / Zahn 26
verloren nach 133 Tagen

Gründe für eine Extraktion: sicheres Ende der Schmerzen, Angst vor dem Zahnarzt, Misstrauen gegenüber Wurzelbehandlungen sowie der familiäre und heimatliche Hintergrund.

Anamnese: Bei diesem Haarriss unter der Füllung entstand vier Monate später eine kleine Fistel am Gingivarand, und die mesiobukkale Wurzel hatte bukkal eine 5 mm tiefe Tasche. Die Patientin wünschte lieber eine einfache Extraktion als noch mehr Behandlungen für diesen Zahn.

Bilder: Die blutigen Areale zeigen drei Entzündungen: zwei kleine Granulome an den Wurzelspitzen sowie die ganze Unterseite der Krone. Sie verursachte die Fistel.

53Rx4010.jpg
19.11.2020
01.04.2021

Die subcoronale Parodontitis

Offenbar entzünden Bakterien das Parodont durch den intakten Cavumboden hindurch!

Ein Hauptgrund für das Scheitern der Frakturreparaturen sind die Bakterien im Cavumboden. Sie reizen das Parodont, das dem Cavumboden anliegt. Die milde Schwellung presst den Zahn nur einen Hundertstel Millimeter aus dem Zahnfach heraus - und schon entstehen Kauschmerzen.

Die subcoronale Parodontitis ist auf dem Röntgenbild gut sichtbar.

subcoronale Parodontitis zeigen


Therapie
Reparaturen mit orthodontischen
Bändern werden hier empfohlen:
The Cracked Tooth Syndrome
Prinzip:  1.) den Haarriss oder Bruchspalt erweitern, desinfizieren und verkleben
2.) eine verstärkte Kompositfüllung darüber aufbauen
3.) die Querkräfte und Belastungszyklen vermindern

Therapie

tiefe Kaugrube:
Der Blick auf die Antagonisten zeigt sofort, welche Füllung und welcher Zahn sich am besten mit Komposit erhöhen lässt und welche Höcker am besten zu kürzen sind. Vielleicht kann die Erhöhung auch die Spee-Kurve verbessern oder eine Stufe verkleinern.

Hoher Höcker (Db): Ein hoher Höcker muss gekürzt werden, wenn er einen Kauschmerz verursacht. Meistens kann der Patient nicht genau sagen, welcher Zahn schmerzt, und kommen mehrere Höcker in Frage. zum Beispiel beim Nachbarzahn oder Gegenzahn.

Verbesserung des Kauzentrums (E): In einigen Fällen kann ein überlasteter Zahn zusätzlich entlastet werden, indem die Kaufläche des Nachbarzahns (der vielleicht nur einen schlechten Kontakt hat) verbessert wird (E rechts, vorderer Zahn). Aus solchen Gründen müssen manchmal zwei oder drei Kauflächen korrigiert werden.

Prophylaktische Okklusionsverbesserung: Hat ein Patient schon einmal eine Zahnfraktur gehabt, lohnt sich auch ein Blick auf die nicht-schmerzenden Seitenzähne. Oft finden sich auch dort tief eingesunkene Füllungen oder steile Höckerwinkel. Dann ist ein prophylaktisches Aufbauen und Einschleifen zu empfehlen.

Copyright © 2024 Icon W. Weilenmann
erstellt: 28.09.2020 - 19.03.2024