W. Weilenmann
Dr. med. dent.
Walter Weilenmann
eidg. dipl. Zahnarzt
dipl. Natw. ETH

Mitglied SSO, SSGS
und SSO-Zürich.

Kompositfüllungen nach Zahnfrakturen

Wöhlerkurve
Wöhlerkurven:
Kauzyklen
Kaukraft
Zahn mit
Schwachstelle
gesunder Zahn
  bricht spät

Gerissene oder abgebrochene Zähne kann man erfolgreich reparie-
ren, wenn man die Ursachen beseitigt. Sie liegen in der Kaukraft, in den Kauzyklen und in lokalen Schwachstellen. Meistens führt die Kombination von mehreren wenig erhöhten Werten langsam zu Haarrissen und Ermüdungsbrüchen (siehe Wöhlerkurven).

Übersicht
Kaukraft
Essen
Knirschen
Pressen
Unfall
0 N
100 N
600 N
6000 N
✚ 100%
wenig Zähne
✚ 100%
Kauzyklen
Essen
Knirschen
rhythmisches Pressen
wenig Zähne
1000-2000 x
✚ 100%
✚ 100%
✚ 100%
  lokale
Schwachstelle
Karies  Amalgam   Wurzelfüllung  altes Dentin
Festigkeit − 50%
Kaukraft ✚ 100%
Erfolgreiche Reparaturen

Kaukraft und Kauzyklen sind dental, muskulär und psychisch bedingt und kaum veränderbar. Aber immerhin kann man schmerzhafte Auswirkungen mit einer Knirscherschiene mildern.

Die lokalen Schwachstellen kann man hingegen gut eliminieren. Sie entstehen wegen Amalgam, Karies, Wurzelfüllungen, tiefen Zahnhalsdefekten, nach Wurzelbehandlungen und im gealterten Dentin. Ungünstige Zahnformen verursachen hohe Hebel- oder Spaltkräfte. Und wenn vier oder mehr Seitenzähne fehlen oder sich die Frontzähne beim Zubeissen nie berühren, kann einer der übrigen Zähne überlastet werden.

 

Das älteste Motiv zu dieser Seite ist ein Erlebnis aus meiner Studienzeit, als Prof. P. Schärer meine Frage, wie hoch der Kaudruck beim Essen auf das Porzellan sei, verlegen und verdutzt antwortete, er wisse es nicht.

Zudem nehmen seit einigen Jahren die Zahnfrakturen zu, weil alle anderen Zahnkrankheiten seltener werden und die Zähne immer länger halten müssen.

Und drittens ist Komposit viel zahnfreundlicher und eignet sich viel besser für Reparaturen als Porzellan. Wenn man Komposit gut verankert und gegen hohe Zugkräfte verstärkt, kann man damit fast alle gerissenen und gebrochenen Zähne retten (ausser bei gespaltenen Wurzeln).


Essen
  • Kaukraft klein, meistens 0-30 N, bei zähem Fleisch bis über 200 N.
  • Kaufrequenz klein, entsprechend der Kaukraft: je weicher die Nahrung, desto weniger Kauzyklen.

Bei Kausimulationen rechnet man pro Tag 658 Kauzyklen zu 50 N = 1.2 Mio Kauzyklen pro 5 Jahre. 50 N sind eine mittlere Kaukraft z. Bsp. für zart gekochtes Fleisch. Meistens beträgt die Kaukraft nur 0-30 N (für Yoghurt, Teigwaren, Gemüse). Auf dieser Kraftniveau finden täglich noch etwa 1000 weitere Kauzyklen statt.

Beim Essen schieben Zunge und Wange den Speisebrei gleichmässig auf die Zähne. Er funktioniert wie ein Polster und verhindert Druckspitzen und direkte Zahnkontakte beim Kauen. Die Kaukraft von 50 N verteilt sich auf etwa 1 cm2 = 0.5 MPa.


Kleine Kraft dank Speisebrei und Schutzreflex beim Essen

Ein hartes Körnchen im Speisebrei löst den Schutzreflex aus, bei dem sofort die Kaukraft stoppt und eine grosse Aufmerksamkeit entsteht. Das Körnchen wird dann sorgfältig vom Speisebrei getrennt und aus dem Mund entfernt. Liegt es vorne, so transportiert man es meistens mit Zunge und Wange zu den Lippen und dann aus dem Mund hinaus. Liegt es hinten, so kann man es mit dem seitlichen Zungenrand zurückhalten, den Speisebrei von den Zähnen über den Zungenrand zur Zungenmitte wegsaugen, bis das Körnchen alleine zwischen den Zähnen liegt und die Zunge es deutlich spüren kann. Sie schiebt es dann nach vorne zu den Lippen und dann zum Mund hinaus. Die Zunge ist so geschickt, dass sie das Körnchen auch unter sich auf dem Mundboden zwischenlagern kann, bis der Speisebrei hinuntergeschluckt ist.

Zartheit und Zähigkeit von Fleisch - Beispiel für kleine und grosse Kraft beim Essen
Länge der Seitenzähne

Das Warner-Batzler-Scherkraftmesser misst die Zartheit.

Das ist ein Apparat wie eine kleine Guillotine. Er hat zwei 17 mm lange Messer, die im Winkel von 60° verbunden sind. Sie schneiden nicht wie scharfe Messer, sondern haben eine 1 mm breite, halbkreisförmig abgerunde Druckfläche. Damit zerdrückt der Apparat das Fleisch etwa gleich wie die Höcker einer Zahnreihe.
Die folgende Berechnung schätzt die Druckfestigkeit von Fleisch.

Warner-Batzler-Scherkraftmesser:    Schätzung der Druckfestigkeit:
WBS
(Fleisch lose eingelegt)
60°
17 mm
12.5 mm
Druckfläche
halbkreisförmig
(Fleisch leicht gepresst)
FWBS
FN

FWBS = Warner-Batzler-Scherkraft [N]
FN = Normalkraft auf das Fleisch [N]
FN = FWBS × sin(30°) sin(30°) = 0.5
 Druckfläche = L×B [mm²] = 2×17×1 = 34 mm²
Druckfestigkeit = FN / Druckfläche [MPa]

Zartes FleischZähes Fleisch
FWBS20 N66 N
FN 10 N33 N
Druckfestigkeit 0.3 MPa1 MPa
Kaukraftmessungen

Die Kaukraft beim Essen kann man mechanisch, elektromyografisch, mit Drucksensoren und auf andere Arten abschätzen. Sie ändert sekündlich. Auf der Kauseite ist sie stets grösser als auf der Balanceseite (= die Seite, auf der man nicht kaut).

Zartheitsbewertungen

Wie komplex die Kraftmessungen sind, zeigt die Zartheitsbewertung von Fleisch.

Bewertungen
7
6
5
4
3
2
1
0
1
2
3
4
5
6
7
8
I
II
III
IV
V
VI
100   80  ← Kaukraft [N] →  25   10
zäh
zart
ältere
Personen?
jüngere
Personen?
Zartheitsbewertung durch Konsumentenschaft (Pkt.)
WBS [kg]

I-VI = WBS-Zartheitsklassen
1-8 = Zartheitsnoten (1=zäh, 8=zart)
Kaukraft = geschätzt (keine Messungen)     Agrarforschung Schweiz 8 (7–8): 268–275, 2017

Interessant wäre die Aufschlüsselung nach dem Alter der Probanden. Verdacht: Je älter der Proband, desto flacher sind seine Zähne, desto kräftiger muss er kauen, und umso weniger zart findet er das Fleisch.

Das Zerkauen eines rohen Rüeblis im Selbstversuch
Kauzyklen bei einer Rübe
0
20
40
60
80
100
120
Kauzyklen: 1 Rüebli ca. 700 Kauzyklen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13  Biss-Nr.

Eine grosse dicke, 148 g schwere, geschälte rohe Bio-Karotte brauchte 9 Minuten Zeit zum Zerkauen. Sie wurde 11 mal abgebissen. Biss 1 war die Rübenspitze, also relativ klein. Biss 12 war das verbliebene dicke Ende der Rübe. Es erforderte fast doppelt so viele Kauzyklen wie die Rübenspitze. Biss 13 war das Zerkauen der vielen kleinen Rübenstückchen, die im Mund neben den Zähnen verblieben waren, und dauerte gleich lange wie Biss 12. Insgesamt waren 34+46+46+50+45+45+59+45+53+70+70+120+30 = 713 Kauzyklen zu je etwa 20-50 N erforderlich. Pro Bissen macht das 54 Kauzyklen
Daraus folgt eine Frequenz von ca. 1 Kauzyklus/sec, exakt wie beim Knirschen.

Nüsse, Rohkost, Teigwaren, Gemüse

Nüsse benötigen die meisten Kauzyklen. Eine Handvoll Mandeln etwa 300. Die Annahme, dass man pro Tag etwa 1000 Kauzyklen vollbringt, scheint für viele Leute eher zu kurz gegriffen.

Ein Bissen Rohkost fordert gut 50 Kauzyklen. Ein Bissen Fleisch etwa 40, Teigwaren etwa 20 und gekochtes Gemüse etwa 10.

Kaugummi, Fingernägel

Wenn jemand schmerzhafte Kaumuskeln hat, sollte er sie schonen und auch das Kauen von Kaugummi und Fingernägeln unterlassen.

Das Zerkauen einer Handvoll Mandeln im Selbstversuch

Der ersten etwa 100 Kauzyklen führte ich mit den Molaren aus, um die Mandeln grob zu zerkleinern. Schlucken war nicht möglich.

Während den zweiten 100 Kauzyklen konnte ich mehrmals etwas Mandelbrei hinunterschlucken.

Die dritten 100 Kauzyklen erfolgten mehrheitlich mit den Frontzähnen. Dabei suchte ich mit der Zunge überall nach verbliebenen restlichen Mandelstückchen um sie dann einzeln zu zermahlen, meistens mit dem linken Eckzahn, und in kleinen Portionen hinunterzuschlucken.


Knirschen: Kraft ‚ Kauzyklen
  • Kaukraft durchschnittlich 100 N (= 3 N/Zahn), Spitzenwerte über 200 N.
  • Kaufrequenz maximal, etwa 5 × Anzahl der Knirschgeräusche. (Mittel = 60/Nacht)

Im Schlaf knirschen alle Menschen. Aber nur 10-20% haben deswegen Schmerzen oder abgenützte Zähne.


Mittlere Kraft dank Losbrechkraft

Beim Knirschen presst man die Zähne zunächst mit mittlerer Kraft statisch gegeneinander (Haftreibungskraft). Dann beginnt man, den Unterkiefer zur Seite zu drücken, bis man die Haftreibung überwindet und die Losbrechkraft erreicht. Sofort beginnen die Zähne gegeneinander zu rutschen. In diesem Moment überwindet man die Haftreibung und beginnt die Gleitreibung, die etwas weniger Kraft erfordert. Wenn man aber bei der Losbrechkraft bleibt, stellt sich sogleich wieder die Haftreibung ein. Das Spiel mit der Losbrechkraft wechselt etwa 4 mal pro Sekunde zwischen Haftreibung und Gleitreibung. Dieser sogenannte "Stick-Slip-Effekt" erzeugt das typische Knirschgeräusch. Bei jedem Wechsel zwischen Haft- und Gleitreibung schwillt die Zugspannung blitzschnell an und ab, was den Zahn erheblich ermüdet.

1996 Salis-Gross: Elektromyografie - Kaukraft im Schlaf

Sabine S. Salis-Gross hat 14 gesunde Probanden je 7 Nächte lang mit EMG (Abb. 2a) beobachtet (Diss Salis-Gross (1996)). Ihre Resultate zeigen:

  • Alle Menschen knirschen im Schlaf, und zwar
  • - durchschnittlich 50-100 mal pro Nacht (alle 6 Minuten je 3-6 Sekunden lang, Tables 17 und 26).
  • - aber nur mit 25% der individuellen Fmax = 97 N (Table 18)
  • - Fmax schwankte von 330 N bis 630 N einseitig im Pämolaren-/Molarenbereich (Table 14).
  • Frauen und Männer haben gleich starke Kaumuskeln (Table 14). Frauen knirschen etwas häufiger ganz fest als Männer (Table 19). Das könnte erklären, weshalb Frauen häufiger Kaumuskelbeschwerden haben als Männer.
  • Alle haben jede Woche einmal ein Spitzenwert von 86-98% der Fmax (Table 23).
  • Die längste Knirschphase dauerte 165 Sekunden (Table 27).
  • Nur 1 von 1000 Knirschphasen ist besonders lange oder kräftig (Table 29, Scattergram).
  • Das maximale Integral IAP betrug 353% der Fmax (Table 28).
  • Der stärkste Knirscher hatte ein dreimal so hohes Integral IAP wie der schwächste.

Besonders interessant ist ihre Aufzeichnung der Knirschphasen und Knirschkraft. Sie erlaubt das Abschätzen von Ermüdungsfrakturen gemäss der Wöhlerkurve.Bild Wöhlerkurve Demnach können nicht nur eine starke Kaukraft, sondern auch viele normale Belastungen zum Ermüdungsbruch führen.
Ab 100 Knirschphasen gilt man als starker Knirscher. Knirschen ist stressbedingt, und die zahnärztlichen Folgen sind hierzulande seit einigen Jahren eindeutig häufiger geworden. Gausskurven Knirschen

Anzahl Knirschphasen pro Nacht
Mittlere Knirschkraft pro Zahn [N] FMittel/Zahn
starke
Knirscher
Frakturprophylaxe ist bei Teilnehmer S12 ein Thema. Er hat mit 630 N die höchste Fmax (Table 14). Pro Nacht hat er 93 Knirschphasen (Table 17). Auf jeden seiner 28 Zähne drückt er im Mittel mit 5 N () und maximal mit 20 N (!), auf den Gauss-Kurven rot markiert). Jede Nacht erreicht er im Schnitt eine maximale Kaukraft von 553 N (Table 23: 23.5 und 81.8 %MVC). Teilnehmer S12 betreibt Höchstleistungssport. Er könnte unterdessen bereits den ersten Zahn oder die erste Füllung zerbissen haben.
Keine Frakturprophylaxe braucht Teilnehmer S2. Er hat nur 54 () mal mit 2.2 N () pro Zahn geknirscht, weniger als alle anderen.

EMG-Kaukraftmessung

Abb. 2a:
Kaukraft- messung mit EMG.

duration/%MVC-Scattergram

> 200 N

Abb. 2b:
Scattergram: etwa 1‰ der Knirschphasen (ca. 7 von 6'762 = 14×7×69) dauern besonders lange (rot), und nochmals so viele sind besonders kräftig (hellblau), und 0.1‰ sind lang und kräftig (blau mit rotem Kreis).

Frequenzmessung bei Bruxern:

1997 beobachteten Gaby G. Bader et. al in Descriptive Physiological Data on a Sleep Bruxism Population" durchschnittlich 167 Knirsch-Episoden pro Nacht bei visueller Beobachtung.

2001 fanden T. Kato et. al in Sleep Bruxism: An Oromotor Activity Secondary to Micro-arousal" bei Bruxismus-Patienten 8 mal mehr RMMA-episoden als bei normalen Patienten. Insgesamt nur 6 pro Stunde.

2001 fanden G.J.Lavigne et. al in Variability in sleep bruxism activity over time" 1 bis 84 Knirschgeräusche pro Nacht.


Pressen: Kauzyklen ‚ Kraft
  • Kaukraft maximal, über 600 N pro Zahn und bei Vollbezahnung bis 5000 N pro Gebiss. Weltrekord bei 10'000 N
  • Kaufrequenz klein bis mittel = Anzahl der Verspannungen. Bei statischem Pressen ist sie klein, bei rhythmischem Pressen mittel.

Beim Pressen bleibt der Unterkiefer bewegungslos in der IKP und alle Muskeln spannen sich isometrisch an.
Viele Leute pressen rhythmisch während der Arbeit oder während dem Gespräch. Auch das Kaugummi-Kauen ist eine Form des Pressens.


Maximale Kraft Fmax weil im Schlaf kein Schutzreflex

Da kein Schutzreflex aktiv wird, erreicht man beim Pressen die Maximalkraft Fmax.
Pressen kann man rhythmisch (alle paar Sekunden einmal) oder statisch (bis 40 Minuten lang).

1681 Borelli: mechanische Messung der Fmax

Die ersten Messungen der Kaukraft waren rein mechanisch (Abb. 1). Es bestand die Gefahr von Zahnfrakturen und Schmerzen.

1987 Sonnenburg: Dehnungsmessstreifen

Mechanische, elektrische und elastooptische Messungen ergaben bei einzelnen Molaren ca. 550 N und bei einzelnen Inzisiven 20 N, und bei Frauen generell 10 N weniger.

2007 T. Fink: Druckmessfolie - Kaukraft pro Zahn

Tobias Fink hat 2007 eine Methode mit Druckmessfolien (Fuji-Prescale®) entwickelt: Entwicklung und Anwendung einer Methode zur Kaukraftmessung. Die Folien sind weich und verteilen die Kraft gleichmässig auf alle Zähne. Sie enthalten winzige Farbkügelchen die platzen, wenn man darauf beisst. Aus den Resultaten kann man die Mechanik des Kauens sehr genau erfassen

Maximale Kaukraft: Schon 1681 versuchte Borelli, sie zu messen:

Autor JahrAnzahl BesonderheitFmax[N]Bemerkungen
Borelli 1681?Messung mit Gewichten 2500 Gewicht hängt am Unterkiefer1
Black 1895? Messung mit Federn1000-5000
Karibe 200320 Kinder (4-5 Jahre alt) 405 ± 65Belastung aller Zähne simultan2
Yamada 200045TMD-Patienten438 ± 173   300-600 N bei Kindern und Schmerzpatienten
Yamada 200045 Gesunde660 ± 391   300-1500 N Range aus vielen Publikationen
T. Fink 20072 28 & 51-jährig1800 & 750   (siehe Kapitel Kaudruck)
Shinogaya 2002 8 Zahnärzte (= perfekte Zähne)1258 ± 330   5'000 N bei extremen Knirschern
Gibbs 1986 1ein extremer Knirscher4346
Korioth 19974Frontzahnbereich 24 - 29Belastung einzelner Zahngruppen3
Mericske-Stern 199621Prämolarenbereich 144   25 N = Fmax Frontzahn
Sonnenburg 1978 10 Molarenbereich ca. 550   600 N = Fmax Molar
Morneburg 2002 9Implantatkonstruktionen < 300Kleine Fmax mit künstlichen Zähnen4
Lauer 1992112 Teil- und Vollprothesen 180 - 360   300 N bei Implantaten, Brücken, Teil- und Vollprothesen

Mittlerer Kaudruck pro Zahn: T. Fink errechnete bei zwei Patienten einen maximalen Kaudruck vorne von 45 MPa und hinten von 68 MPa. Vorne fand er viel kleinere Kontaktflächen als hinten, was den Druck pro Zahn ausgleicht: (Diss Fink, S. 76)

Druck pro Zahn
28-Jähriger:
60 MPa
51-Jähriger:
55 MPa

Patient 2 (mit zwei Brücken)
mittlerer Kaudruck = 750 N / 13 mm2 = 55 MPa.
Schwacher Kaudruck im Bereich der Brücken (weniger Wurzeln!).

Maximale Kaukraft pro Zahn: Sie beträgt bei beiden Patienten vorne nur etwa 10 N, hinten beim 28-Jährigen (blau) aber 618 N!.

Die maximale Kaukraft kann als Zugkraft in Erscheinung treten und ist dann entscheidend für die Bruchfestigkeit von Komposit. Bei kleinen Höckerwinkeln kann sie sogar als eine noch grössere Spaltkraft wirken. Diss Fink, S. 75

Kraft pro Zahn
F max / Zahn
N
600
500
400
300
200
100
0
17 16 15 14 13 12 11 21 22 23 24 25 26 27 28
1Am Unterkiefer hängendes Gewicht

Kaukraftmesser Borelli
Mit dieser Messmethode kam Borelli (1681) auf eine Fmax von 2'500 N. Dabei müssen aber nicht nur die Kiefermuskeln, sondern auch die Nackenmuskeln beitragen.

2Belastung aller Zähne simultan

Knirscherschiene
In der IKP erzielt man auch im Schlaf eine Fmax von über 4000 N, auch mit Michiganschiene (1950).

3Belastung einzelner Zahngruppen

NTI-Schiene
Die NTI-Schiene (1995) lenkt alle Kraft auf den schwächsten Zahn. So entsteht schon bei 25 N ein Beissstop-Reflex.

4Kleine Fmax mit künstlichen Zähnen

Mit Vollprothesen hat man die geringste Kaukraft. Interessant ist, dass auch Implantate und Brücken die Kaukraft vermindern. Ersteres könnte wegen der fehlenden Innervation der Implantate sein, zweiteres wegen der kleiner Zahl von Zahnwurzeln. Ob Implantatträger auch dieselbe Gangunsicherheit haben wie Prothesenträger ist noch nicht bekannt.

Neuste Entwicklung (2016):

L. Gallo beschreibt in "Analyse der Biomechanik des Kiefergelenks: Aktueller Stand" (Der MKG-Chirurg, 2016, Vol 9, 155-166) virtuelle 3D-Artikulatoren, die Kieferbewegungen patientenspezifisch replizieren, und deren Informationen auf lebendes Gewebe repliziert werden kann.


Folgen von Knirschen und Pressen

Harmlose Folgen und Vorzeichen der Frakturen: Etwa 20% der Menschen knirschen und pressen so oft, dass sich die Kaumuskeln nicht erholen können und zu schmerzen beginnen. Der Schmerz kann bis in die Stirn ausstrahlen (Kopfschmerz). Gleichzeitig entsteht oft eine Druck- und/oder Kaltempfindlichkeit bei den überlasteten Zähnen. Dabei brechen auch kleine Kanten bei Füllungen und Frontzähnen ab.

Ernsthafte Folgen Die stärksten Knirscher schleifen ihre Zähne 1-2 mm pro 10 Jahre ab. Manche Schlifffacetten reichen bis ins Dentin und werden dadurch empfindlich. Einige von ihnen haben nie Schmerzen und schleifen ihre Zähne bis zum Zahnfleisch ab. Es wird denn manchmal beim Essen schmerzhaft verletzt, oder die Zahnnerven kommen an die Oberfläche.

Schädliche Folgen: Etwa weitere 20% der Menschen bekommen in der zweiten Lebenshälfte Zahnschmerzen wegen Haarrissen im Dentin und erleiden Ermüdungsfrakturen in Füllungen und Porzellankronen, Höckerabrisse und Wurzelfrakturen. Letztere treten bei etwa 10% der Wurzelbehandlungen auf und bedeuten oft das Ende eines Zahnes.


Harmlose Folgen

Muskelschmerzen

Die oberen und unteren Kaumuskeln (Abb. 3) erzeugen Schmerzen an der Stirn resp. in den Wangen, wenn sie sich zu wenig erholen können. Obwohl Frauen kleinere Kaukräfte haben, bekommen sie etwa dreimal solche Schmerzen als Männer.

Zahnschmerzen

Zudem werden die Zähne übermässig stark gegen die Kieferknochen gedrückt. Dadurch entstehen auch Zahnschmerzen (Druck- und/oder Kaltempfindlichkeit).

Ernsthafte Folgen

Starke Schlifffacetten und Bissenkung

Starke Knirscher schleifen ihre Zähne 1-2 mm pro 20 Jahre ab. Dabei brechen kleine Kanten bei Füllungen und Frontzähnen ab, oder es entstehen kleine Höckerwinkel mit hoher Spaltkraft. Manche Schlifffacetten reichen bis ins Dentin und machen den Zahn empfindlich. Einige Knirscher spüren so wenig Schmerzen, dass sie ihre Zähne mehrere Millimeter abschleifen. Zuletzt sind sie so nieder, dass das Zahnfleisch beim Essen zu schmerzen beginnt oder die Zahnnerven an die Oberfläche kommen.

Pulpitis und Wurzelbehandlung

Einige Zähne schaukeln beim Knirschen sichtbar hin und her. Dabei werden einzelne Zahnnerven bei der Wurzelspitze unten übrmässig gedehnt und gequetscht (Abb. 4 unten). Sie entzünden sich aus mechanischen Gründen (ohne Einwirkung von Bakterien!) und werden kaltempfindlich. Ohne Behandlung nehmen die Schmerzen zu und wächst der Haarriss immer weiter.

Fehl- und Überbehandlungen

Die Schmerzen vor dem Bruch sind immer noch reversibel. Kommt der Haarriss nahe an die Pulpa, werden sie so stark, dass viele Zahnärzte eine notfallmässige Wurzelbehandlung empfehlen. Besser wäre es natürlich, wenn sie die schuldigen Kontaktflächen einschleifen oder eine kleine NTI-Schiene anfertigen würden. (in Abb. 4 oben den hohen Höcker niedriger schleifen). Aber das ist scheinbar schwieriger und sicher weniger gut bezahlt als Wurzelbehandlungen, Überkronungen und grosse Knirscherschienen.

Schädliche Folgen

Haarriss mitten im Prämolar
Haarriss in Prämolar
90°

46-jähriger Patient (23.09.2019 / 2166)

Der Haarriss entstand aus vier Gründen:
• Knirschen,
• 90°-Höckerwinkel (rechts),
• Schwächung durch eine Füllung, und
• Gegenzahn, der beide Höcker zugleich berührt und sie wie ein Keil auseinanderdrückt.

Fraktur eines Keramikinlays wegen kleinem Höckerwinkel
Bruch einer keramischen Füllung

Diese Keramikfüllung ist vor 2 Jahren gebrochen. Seither kann der Patient auf einer Seite nicht mehr kauen. Der Nerv ist sicher tot. Aber er hat kaum Schmerzen und möchte den Zahn deshalb nicht extrahieren lassen. Auf dem Röntgenbild sieht man nur eine kleine Entzündung.

Auf beiden Seiten der Fraktur sind starke Schlifffacetten sichtbar.

Verbiegung einer Endofix-Schraube wegen Hebelwirkung
Verbiegung einer Wurzelkanalschraube
Wirz-Schraube

78-jährige Patientin (16.09.2019 / 2064)

Die Patientin will ihre Teilprothesen nicht tragen und kommt mit den 5 Frontzähnen gut zurecht. Aber nach nur 4 Monaten hat sie die Wirz-Schraube verbogen. Sie hatte keine Schulterauflage und war in diesem Fall zu dünn, eine Endofix (Ti-6Al-7Nb):
Ø (ohne Gewinde)=0.8 mm. Fläche=0.64 mm². Biegekraft=900 MPa×0.64 mm²=570 N.
Folglich haben 80-Jährige eine FFrontzahn von gut 57 Kg!

Kaumuskeln
M. temporalis
M. masseter

Abb. 3
Die 8 Kaumuskeln

je links und rechts der obere und untere Kaumuskel (siehe Bild),
sowie die zwei tieferliegenden M. pterygoideus medialis und lateralis.

Pulpitis wegen Knirschen

Abb. 4
Einschleifen

Der Höcker (1) wird beim Knirschen nach rechts gedrückt. Der Alveolarknochen wirkt am oberen Rand (2) wie ein Hypomochlion. Die Wurzelspitze (3) wird nach links gedrückt. Das dehnt und quetscht den Nerv. Er entzündet sich und beginnt zu schmerzen (roter Kreis).

Normale Schlifffacetten

Die normalen Knirschbewegungen drücken einen normalen Zahn 40-60 μm schräg zur Seite und schleifen ihn etwa 25 μm pro Jahr oder 1-2 mm pro 50 Jahre ab. Das ergibt harmlose, kleine und unempfindliche Schlifffacetten.

Das Gute der Zahnschäden

"Aus Schäden wird man klug" stimmt auch bei Zahnärzten. Der Schaden ist eine erstklassige Hilfe, sich zu verbessern - besser als jeder Fortbildungskurs. Er ist ein sehr wertvoller Gewinn für den Praktiker, und der Patient verdient eine sehr kulante Nachbehandlung.


Zugfestigkeit‚ Streckgrenze‚ E-Modul
Metall-Atome Kompaktes Atom-Gitter
eines Co-Cr-Drahtes

Streckgrenze: 1000 MPa
E-Modul: 150-250 GPa

EvoCeram Bulk Fill Atom-Gitter von EvoCeram Bulk Fill mit Nanofüllern

Zugfestigkeit: 38 MPa
E-Modul: 10 GPa

Die Zugfestigkeit ist die Spannung, bei der ein Material noch nicht bricht.
Bei der Streckgrenze stellt sich ein Metall gerade noch elastisch zurück.
Betonstahl heisst "BSt500" (= 500 MPa Streckgrenze). Die Zähne müssten "Z50" heissen wegen ihrer Zugfestigkeit von 50 MPa.

Weshalb ist die Zugfestigkeit so viel kleiner als die Druckfestigket? Die Zugkräfte ziehen die Atome eines Materials auseinander, bis die Bindungsenergie zwischen ihnen überwunden wird. Die Druckkräfte schieben hingegen die Atome näher zusammen, was viel weniger zu Brüchen führt.

Weshalb haben Metalle eine so grosse Zugfestigkeit? Bei Metallen kleben die Atome eng und uniform in einem beliebig grossen Verband zusammen. Kunststoffe und Biomoleküle wie das Kollagen im Dentin hingegen bestehen aus verschiedenartigen Atomen mit weniger engem Zusammenhalt.

Das E-Modul beschreibt die Steifigkeit beim Zugversuch. Steife Materialien haben ein grosses E-Modul, dehnbare ein kleines und eine grosse Längenänderung. Der Zusammenhang ist wie folgt: E = F · L0 / ( A · ΔL)


Zahn und Füllung sind nicht sehr zugfest

Druckfestigkeit
[MPa]
Zugfestigkeit
[MPa]
Schmelz100-40010
Die Zugfestigkeit
ist etwa 10 x
kleiner als die
Druckfestigkeit.
Dentin 200-350 30-65
Tetric 26130
Amalgam, Porzellan 350-52045-65
Dentin-Komposit-Adhäsion26110-70

Schmelz ist mit 10 MPa sehr brüchig. Er bekommt sehr rasch Haarrisse, wenn sich zum Beispiel ein Frontzahn wärmebedingt ausdehnt. Wenn das Dentin unter dem Schmelz kariös ist oder weggebohrt wird, bricht der auf sich allein gestellte Schmelz bereits bei einer Belastung von 1 Kg ab.

Dentin bricht häufiger entlang der Dentintubuli als quer zu ihnen. Offenbar ist die Zugfestigkeit des Dentins längs und quer zu den Dentintubuli verschieden. Am brüchigsten ist altes Dentin (Austrocknung durch Pulpaobliteration) und das Dentin devitaler Zähne.

Die Dentin-Komposit-Adhäsion hängt vom verwendeten Adhäsiv ab und ist maximal so gross wie die Zugfestigkeit von Dentin.

Alterung des Dentins (und Knochens)
Dentinalterung
MPa·m0.5
1.8
1.6
1.4
1.2
1.0
10 20 30 40 50 60 70 80 90
Alter
Aging and the reduction in fracture toughness of human dentin. A. Nazari et al. 2009
Bruchzähigkeit

Das Dentin bei 90-Jährigen ist fast doppelt so brüchig wie jenes von 20-Jährigen. Die Versprödung entsteht durch Einlagerung von Mineralien bei der Obliteration und Zersetzung der Eiweisse durch Austrockung.

Die Zahnfrakturen häufen sich ab dem 50. Altersjahr (vergleiche hier).

Im Alter verliert auch der Knochen an Bruchfestigkeit, aber aus ganz anderen Gründen: Bewegungsmangel, Abbau der Knochenmasse, Menopause, Rauchen, Alkohol, Untergewicht und Mangel an Zufuhr von Proteinen, Calzium und Vitamin D.

Druckfestigkeit von Lebensmitteln

Beim Essen muss die Druckfestigkeit der Lebensmittel überwunden werden. Da die Zähne und Füllungen höhere Druckfestigkeiten haben als die Lebensmittel, wäre das kein Problem. Nur wenn bei einem Zahn eine ungünstige Form den Kaudruck in eine Zugkraft umlenkt und dazu noch eine Hebelwirkung die Zugkraft verdoppelt, wird der Zahn brechen.

DruckfestigkeitZugfestigkeit
Teigwaren≈ 0≈ 0
Äpfel 0.7-0.9 <10
zähes Fleisch 13<10
Walnüsse 58-72100
Kirschkernesind etwas weicher

Zugfestigkeit anderer Materialien

E-Modul
[GPa]
Druckfestigkeit
[MPa]
Zugfestigkeit (=Streckgrenze*)
[MPa]
menschl. Haar1.1 -200
Knochen10 150100
Dentin 15-20200-35030-65 (bricht NICHT sofort!)
Schmelz 50-85100-40010 (extrem spröd, bricht sofort)
Tetric 11 250-28030
Fensterglas 70700-90030 ("zerbrechlich")
Keramik 100 >3'000500
Amalgam 25-60350-52045-65
Zirkon, VMK1002'000>400
Titan-Implantate 110 ca. 50600
Cobalt-Chrom 152 ca. 501000-2000 (extrem zäh, bricht nie)
* Spröde Materialien brechen sofort beim Erreichen der Zugfestigkeit.
Ihre Streckgrenze wird also rasch überschritten.
Zähe Materialien hingegen brechen nicht, sondern strecken sich nur.
Amalgam

Amalgam ist billig, weil es einfach und rasch zu verarbeiten ist. Es hält meistens 10-15 Jahre. Eshat aber wegen der Mikrobeweglichkeit der Höcker neben dem Amalgam folgende Nachteile:

  • Nach 20-30 Jahren schwächt die Dentinermüdung den Zahn, so dass er oft bricht.
  • Die Korrosion des Amalgams im Randspalt verstärkt die Obliteration und Austrocknung des Zahns.
  • Nach Amalgam folgt oft eine Überkronung.
  • Amalgamfüllungen sind nicht schön.
VMK und Zirkon

ISO 22674 empfiehlt nur eine Bruchfestigkeit von 360 MPa. Zirkon hat aber 1600 N, und Porzellankronen (= VMK) sogar 3500 N. Diese Materialien sind also übertrieben fest (Zirkon stammt aus der Raumfahrttechnologie) und haben folgende Nachteile:

  • Keramische Kronen sind etwa fünfmal teurer als Komposit, halten aber kaum doppelt so lange wegen Karies, Ästhetik und Frakturen.
  • Für keramische Kronen muss man viel gesunde Zahnsubstanz opfern.
  • Keramik schleift den Gegenzahn doppelt so rasch ab wie ein natürlicher Zahn.
  • Abgebrochene Keramik ist schlecht reparierbar.
  • Nach 20 Jahren passt ihre Farbe nicht mehr zu den Nachbarzähnen.
Titan-Implantate

Gemäss ISO 14801 sollten Implantate 2 Millionen Belastungen zu 200 N schadenfrei ertragen. Bei täglich 200 solchen eher starken Belastungen ist diese Grenze nach 30 Jahren erreicht. Implantate halten aber nur 10-20 Jahre, und 62% von ihnen haben Haarrisse (Fatigue of Dental Implants, 2016, S. 5).

Teilprothesen mit Klammern

Teilprothesen haben häufig ein Co-Cr-Gerüst zur Verstärkung, zu ihrer Verkleinerung, und vor allem für die Klammern, mit denen sie sich an den verbliebenen eigenen Zähnen festhalten. Co-Cr ist die stärkste Legierung der Zahnmedizin, aber auch diese Klammern brechen gelegentlich ab.

StoffgruppeBruchdehnungE-Modul
Kunststoffehoch ca. 10 MPa
Metallemittel ca. 100-200 MPa
Keramikengering ca. 300 MPa
Das E-Modul

Es bestimmt die Festigkeit eines Materials gegen Zug. Ein grosses E-Modul bedeutet, dass das Material sehr zugfest ist (Baustahl: 210'000 MPa). Ein kleines bedeutet, dass es leicht dehnbar ist (Gummi: 5000 MPa).

Die Zugfestigkeit gibt an, bei welcher Spannung das Material bricht (Gummi 30 MPa) oder sich definitiv verformt (Baustahl 500 MPa).

Die Spannungs-Dehnungs-Kurve
Spannungs-Dehnungs-Kurve
Zugspannung σ
 σ = E-Modul · ε 
MPa
300
200
100
0
0
1‰
2‰
Dehnung ε
Keramik
Co-Cr-Draht
Draht +
Tetric
Tetric
= Bruch nach Überschreiten der Streckgrenze von 2‰

Draht + Tetric
Sind Draht und Komposit gut verbunden, wird die Füllung etwa dreimal bruchfester als ohne Draht.


Zahnhalsfüllung und Totalaufbau Front
Biegung einseitig eingespannter Balken

Zug
+
Druck
Quer-
kraft

Balken wird kürzer
+ Balken wird länger
Hebelwirkung am Frontzahn

1
1
2
Querkraft
Zug
Druck
17.5 N
35 N
35 N

Problem 1: Zug und Druck
Der obere Frontzahn ist wie ein "einseitig eingespannter Balken" (Wikipedia) Deshalb entstehen Zug- und Druckspannungen. Beide sind verantwortlich für die Misserfolge mit grossen Füllungen bei Frontzähnen. Denn Dentin und Komposit haben nur eine schwache Zugfestigkeit.

Problem 2: Hebelwirkung verdoppelt Querkraft
Die Kaukraft trifft den Zahn nahe der Schneidekante. Der Weg bis zum Zahnhals (2) ist etwa doppelt so lang wie der Weg von der Zahnmitte zum Zahnfleisch (1). Damit werden Zug und Druck doppelt so gross wie die Querkraft (siehe Hebelgesetz und Winkelhebel).


Zahnhalsfüllung und labialer Druck

Berechnung der Druckkraft
hinaus-
gedrückte
Zahnhals-
füllung

Zug

Druck
Druck
B
L
50°
K

Durchmesser labiolingual = 6 mm
Defekttiefe = 1.5 mm ()

L = Länge = 10 mm
B = Breite = 2.25 mm
L : B ≅ 4.4 : 1

K = Kaukraft = 25 N
Druck = K · L/B  (Hebelgesetz)
Druck = 25 N · 4.4 = 110 N

Fläche des Defekts ≅ 1 cm2
Druck- und Zugspannung =
110 N / 1 cm2 = 1.1 MPa

Exponentielle Zunahme des Drucks gemäss Hebelgesetz

Defekt-
tiefe [mm]
Breite B
[mm]
L/B =Druck-
kraft [N]
0 3 10/3 = 3.3 82
1 2.5 10/2.5 = 4 100
2 2 10/2 = 5 125
3 1.5 10/1.5 = 6.7167
Kurve der Zahnhalsdefekte
Druckkraft
Defekttiefe
Kronenlänge 10 mm, Wurzelbreite 6 mm
Kaukraft 25 N
N
180
160
140
120
100
80
0
1
2
3   mm
Weshalb wird die Füllung hinausgedrückt?

Die Dentinadhäsion hat eine Zugfestigkeit von 10-60 MPa. Bei alten Patienten ist eher die untere Grenze anzunehmen (Dentinfestigkeit -50%). Und wenn mehrere Seitenzähne fehlen und/oder parodontal geschwächt sind, so wird der Frontzahn vermehrt und kräftiger belastet, wenn er noch fest ist (Kaukraft + 100%, Kauzyklen + 100%).

Der höhere Druck, die zusätzlichen Kauzyklen und die verminderte Dentinfestigkeit in Kombination ermüden das Dentin, so dass die Adhäsion bald versagt, wenn sie nicht mit Mikroretentionen unterstützt wird.


Totalaufbau und palatinaler Zug


52FrontTotal.PNG

Klasse I
Rand-
spalt
Zug
Kaukraft
Klasse I
modifiziert
Kopfbiss

Druck
Quer-
kraft
Normal-
kraft
Klasse I

Die Kaukraft trifft in einem Interinzisalwinkel von 45° auf den oberen Frontzahn. Es entsteht eine Normalkraft N und Querkraft Q. Letztere wird durch einen Winkelhebel am Zahnhals zu einer doppelt so grossen Zugkraft Z umgelenkt.

Winkelhebel mit K = 25 N
Berechnung der Zugkraft
B
L
Z
Q
N
K
45°
L = Länge, B = Breite
Q ≅ 0.7 · K (Pythagoras 45°-Winkel)
L:B = 2:1  (geschätzt)
Z = Q · L/B  (Hebelgesetz)
Z = Q · 2
Z = √ 2  · K
Z = 1.4 · 25 N
Z = 35 N
Klasse I modifiziert

Der untere Frontzahn wird labial reduziert und ein wenig gekürzt. Der obere Frontzahn wird palatinal entsprechend mit einem Plateau verdickt, so dass eine nach palatinal versetzte, horizontale Kontaktfläche entsteht.


Pins und Posts
Parapulpärschräubchen und Wurzelkanalschrauben können die grossen Kompositfüllungen perfekt verankern.
Die Abzugskräfte betragen:
  • 10 − 14 kp bei Parapulpärschräubchen (0.8 mm hält besser als 0.6 mm)
  • 90 − 100 kp bei Wurzelkanalschrauben (halten fast 10 mal besser als Wurzelkanalstifte)
Parapulpärschraube Abzugskraft Abzugkraft

54PinsPosts.jpg

"WIRZ-Schraube"

Parapulpärschrauben

Achtung: pp-Schräubchen halten nur bei guter Vorbohrung. Mit zittriger Hand wird das Loch oval und hält das Schräubchen nicht.

 FILPIN 0.60 mm Titan

 STABILOK 0.60 mm Titan (gelb)

(hält wenig oder gar nicht, wenn die Vorbohrung nicht gut gelingt)

 STABILOK 0.76 mm Titan (orange)

(hält deutlich besser)


Wurzelschrauben

Achtung: Wurzelschrauben halten immer gut.

 ENDOFIX P plus 1.4 mm / 6 mm Ti-6Al-7Nb

 ENDOFIX Gewindeschneider


Abzugskräfte


Vor 50 Jahren gab es noch keine Zahnimplantate. Die Zähne mussten mit Amalgam repariert werden. Da war es eine Kunst, mit Verankerungselementen die Amalgamfüllungen auch bei stark zerstörten Zähnen zu befestigen. Man begann mit zylindrischen und konischen Stiften (Stiftzähne) und verbesserte dann ihren Halt durch Sandstrahlen und mit Rillen. Schliesslich entwickelte man Gewindeschneider, dass man passgenaue Schrauben in den Zahn eindrehen konnte. Sie hielten bis zu 10 mal besser als die Stifte!

Jürg Scherrer hat 1985 in Basel in seiner Diss die Abzugskräfte fast aller damals in der Schweiz erhältlichen Wurzelstifte und -schrauben (A - F) gemessen ( Endodontische und parapulpäre Verankerungselemente für die restaurative Zahnheilkunde).

Achtung Polymerisationsschrumpfung! (Hinweis an meine Kollegen)


Simone Schiller hat 2012 in Bonn in ihrer Diss die Abzugskräfte von Kompositaufbauten gemessen, die sie mit Komet-Parapulpärschräubchen befestigte ( Retention von Kompositaufbaufüllungen mit und ohne Einsatz parapulpärer Schrauben).

Zur grossen Überraschung fand sie, dass die Verankerungen die Adhäsion des Komposits verschlechtern. Als Erklärung deutet sie an, dass das Komposit in einer zu dicken Schicht (5 mm) gelegt worden sei. Offenbar kann die Polymerisationsschrumpfung bei den Schrauben das Komposit vom Dentin wegziehen. Sie hat MultiCore Flow (Ivoclar/Vivadent)verwendet. Die Polymerisationsschrumpfung von MuliCore Flow ist mir noch unbekannt.

Ich vermute zudem, dass sich beim Stopfen das Komposit nicht überall ins winzige Schraubengewinde einlagern konnte. Um dies zu verbessern, verkauft die Industrie seit etwa 2020 sogenannte Liners. Das sind flüssige Komposits, die sich luftblasenfrei mit der Unterlage verbinden und als erste Schicht unter dem Komposit verwendet werden sollen.

Daraus ergibt sich die Einsicht, dass man die Schrauben und das Dentin zuerst mit einer dünnen Schicht Komposit oder mit einem Liner beschicken (1 mm) und erst nachher das Bulk-Fill-Material in grossen Portionen hinzufügen soll.

Abzugskraft [N]

Parapulpäre Anker
Denlok Dentin Pin (Prevdent, GB) 147 ± 11
TMS Whaledent (Whaledent, USA) 138 ± 8
Dentinanker (Maillefer, CH) 128 ± 6
Stabilok 0.8 mm(Fairfax, IRL)117 ± 11
Forestadent (Förster, BRD) 117 ± 6
Filpin Titan (Filhol, IRL) 112 ± 8
Retopin (Edenta, CH) 92 ± 14
Stabilok 0.6 mm(Fairfax, IRL)80 ± 7
Unitek Pin 40 ± 9
Presspass-Stift 38 ± 9
Endodontische Anker
Gewinde im Wurzelkanal (WIRZ-Schraube)900-1020
konisch-zylindrische Schrauben428-659
mit Gewinde285-420
konische Schrauben277-385
sandgestrahlt ohne Gewinde112-205
glatte konische Wurzelstifte108-272

Beachte:
Eine WIRZ-Schraube hat eine zehnmal höhere Abzugskraft als ein Parapulpärschräubchen, nämlich etwa 100 Kg!!!.


Totalaufbau verankern


54pp_Wurzel_Schr.PNG

Wurzel-
stift
Wurzel-
schraube
👎
pp-Schr.
labial
👍
pp-Schr.
palatinal
Auflage-
teller
Zug
Druck
Quer-
kraft
pp-Schrauben

Weshalb Metall-Verstärkungen?

Wenn ein Zahn bricht, bedeutet das, dass das Dentin eine niedere Zugfestigkeit hat. Wenn nur geklebt wird, so reisst die Kaukraft nur auf der Klebefläche am (brüchigen) Dentin.

Schrauben statt Stifte

Das Gewinde wirkt wie ein Winkelhebel und lenkt die Zugkräfte in Druckkräfte um. Bei starkem Zug und altem Dentin kann eine Schraube zerrissen oder aus dem Dentin herausgezogen werden.

pp-Schrauben palatinal und schief setzen

Die pp-Schrauben haben noch eine bessere Retention, wenn man sie nicht in Zugrichtung, sondern schräg dazu setzt (wie einen Zeltpfosten). Sie müssen palatinal bei den Zugkräften liegen und nicht labial, wo nur Druckkräfte vorkommen.

Wurzelschraube mit Auflageteller

Der Auflageteller lenkt die Querkraft in eine Druckkraft um. Er sollte auf der labialen Seite auf dem Dentin aufliegen.


55Filpin1460.jpg
3 Filpin-
Parapulpär-
schrauben
Schwächung durch Zahnhalsdefekt

92-jährige Patientin (03.04.2019 / 1460)


Reparatur mit Filpins

Filpin® (Filhol Dental Irland)
99.8% Ti (Reintitan) Grad 1
E-Modul: 105 GPa (=sehr gut biegbar)
Zugfestigkeit Rm: < 300 MPa

Ø: 0.6 mm
Bruchfestigkeit: 0.3²·π·300 = 84 N = Bruchgefahr
Ø 0.76 mm: 136 N

Misserfolg nach 3 Monaten!

Die Filpins waren querfrakturiert und herausgerissen.


55KometPin_TMS.jpg

Pins aus alpha-beta-Titan
Ti6Al4V Grad 5

E-Modul: 114 GPa
Zugfestigkeit: 895 MPa

FO/PCR Pins Komet®
Ø: 0.55 mm
Verformung bei 0.272·π·895 MPa = 205 N

TMS-Link Coltene/Whaledent®
Ø: 0.525 mm
Verformung bei 0.262·π·895 MPa = 190 N


55Parafix5281.jpg
3 Parafix-pp-Schrauben
Zahnfraktur wegen Porzellankrone nach 30 Jahren

49-jährige Patientin (30.09.2019 / 5281)

Der seitliche Schneidezahn war ein Zapfenzahn. Deswegen wurde er vor 30 Jahren überkront. Das hat ihn derart geschwächt, dass er nun quer abgebrochen ist. Die Pulpa hat sich zurückgezogen, lebt aber noch.

Parafix®   (Syntacoben, Co47Ni22Cr18Fe5W4Mo4)
Zugfestigkeit: 1000 MPa,   Ø: 0.58 mm
Biegekraft: 0.29²·π·1000 MPa = 264 N. Beschreibung von Prof. J. Wirz


56para.jpg

Parafix® und Filpin®

oben: Parafix® 0.7 mm

Mitte: Parafix® 0.5 mm

unten: Filpin® 0.5 mm

Man beachte den Unterschied zwischen der Filpin®- und Parafix®-Schraube:
die Filpin®-Schraube ist am Ende abgerissen, während die Parafix®-Schrauben ein schön verarbeitetes Ende haben.


Totalaufbau Seitenzahn
Spaltwirkung

Haarriss
Zug
Druck
Druck
Kau-
kraft

Spaltwirkung

Druck
Druck
Kau-
kraft
Molaren ohne Hebelwirkung

Die Seitenzähne sind gekerbte Körper. Die Grübchen wirken wie Kerben, und unter ihnen entstehen Spannungsspitzen. Ein Zahn mit einem tiefen Gr¨bchen ist wie ein "angeritztes Glas", das leicht bricht.

Problem 1: Die Zugkraft in der Fissur
Der obere Vierer mit seinen zwei Höckern bricht häufiger als der untere mit nur einem Höcker. Letzterer wirkt beim normalen Essen wie ein Spaltkeil.

Problem 2: Der Höckerwinkel hat eine Hebelwirkung
Eine flache Verzahnung hat keine Hebelwirkung, bei einer tiefen hingegen wird die Spaltkraft grösser als die Kaukraft.


Die Zugkraft bei Seitenzähnen


Zugkraft unter einem Höcker
quere Kaukraft verbiegt den Höcker
V
e
r
b
i
e
g
u
n
g
H
ö
c
k
e
r
Amalgam
Zugkraft, Haarriss

Typisch bei Amalgamfüllungen:
Zugkräfte erzeugen Haarrisse

Die Kaukraft führt zu Millionen von kleinen Zugkräften beim Essen und nachts beim Knirschen und rhythmischen Pressen. Sie verursachen Haarrisse, Risswachstum und schliesslich die Höckerfraktur.

Höckerbruch 60-jährige Patientin (11.09.2019 / 252)

Zugkraft In dieser viel zu tiefen Kaudelle entsteht bei jedem Bissen eine Sprengkraft, die grösser ist als die Kaukraft (Höckerwinkel < 90°).
Auf die Dauer entsteht eine Ermüdungsfraktur, bei der der innere oder äussere Höcker abbricht oder die ganze Füllung längsfrakturiert (rote Linien).
Offenbar wirken Zugkräfte wegen kleinen Höckerwinkeln und in tiefen Dellen ohne Abflussrillen. Es gilt, die Zugfestigkeit des Komposits zu verbessern.

Höckerwinkel vergrössern
Höckerwinkel

Die Sprengkraft des kleinen Höckerwinkels (rot) verschwindet sofort, wenn man ihn vergössert (grün). Man kann die hohen Höcker kürzen, an denen Querkräfte angreifen, und/oder die tiefe Kaudelle zwischen ihnen auffüllen und den Gegenzahn kürzen.

Verstärkungsdraht für Kompositfüllungen

E-ModulZugfestigkeit [MPa]Material
Tetric 11'0003020% Kunststoff, 80% Glas
Verstärkungsdraht210'000 2'000Co-Cr-Legierung
Komposit mit Drahtverstärkung
Z
u
g
k
r
a
f
t
K
n
i
r
s
c
h
e
n
Komposit
Draht
Wurzel-
füllung
Haarriss
Bruch- und 0.2%-Dehngrenzen [N]
Komposit alleine30 MPa × (4 × 3) mm²= 360 N
Draht 016×022''2000 MPa × (0.41 × 0.56) mm²= 460 N
Draht 018×025''2000 MPa × (0.46 × 0.63) mm²= 580 N
Komposit + 1 DrahtPrämolaren: 360 N + 460 N= 820 N
Komposit + 2 DrähteMolaren: 360 N + 2 × 460 N= 1280 N

Verbindung Komposit-Draht

Die Verbindung Komposit-Draht entsteht bei der Polymerisationsschrumpfung in Form einer Presspassung. Zusätzlich wird der Draht verbogen, womit ein seitliches Verschieben ganz unmöglich wird.


66Beispiel5663.jpg
Zahn 5+, Höcker abgebrochen, im Zahnfleisch ist eine intakte Parapulpäschraube zu sehen.
Die fertige Reparatur. Der Draht schimmert leicht durch.
Starker Knirscher

okay
Patient 70 J. / 28.08.2019 / 5663 / Zahn 15
erfolgreich seit 1680 Tagen

Vorgeschichte: Der Patient hat bereits zwei Zähne zerbrochen. Einer davon ist 4+. Der Verstärkungsdraht schimmert im mittleren Bild (ganz oben) durch das Komposit hindurch. Er wurde am 30.01.2018 repariert.

Der Verstärkungsdraht ist derselbe, den die Kieferorthopäden benützen, um die Zähne zu verschieben.


66Beispiel6657.jpg
Zahn 7-, Haarrisse unter einer alten Amalgamfüllung.
Die fertige Reparatur. Der Draht schimmert leicht durch.
Knirschen und tiefe Verzahnung

okay
Patient 60 J. / 21.01.2021 / 6657 / Zahn 47
erfolgreich seit 1168 Tagen

Anamnese: Der Zahn begann vor längerer Zeit beim Kauen zu schmerzen. Durch Schonen erholte er sich jeweils wieder. Beim Kaugummi-Kauen kehrte der Schmerz zurück. Vor wenigen Tagen kam ein sehr starker Schmerz. Seither konnte der Patient auf der rechten Seite nicht mehr kauen.

Beachte: Beide Nachbarzähne sind flacher. Die Querkräfte belasten besonders diesen Zahn.


68Beispiel7749.jpg
Kleines Restgebiss

okay
Patientin 51 J. / 10.09.2019 / 7749 / Zahn 34
erfolgreich seit 1667 Tagen

Vorgeschichte: Die Patientin hat links unten nur noch einen Prämolar. Er ist ihr sehr wichtig für den Halt der Teilprothese. Die Endofix-Schraube erfährt keine Querkräfte und wird nicht krumm gedrückt. Deshalb müssen die Filpin-Parapulpärschräbchen keine Zugkräfte auffangen und dürfen dort gesetzt werden, wo sie am besten Platz haben.

Copyright © 2024 Icon W. Weilenmann
erstellt: 08.08.2019 - 23.02.2024